Hommage an Zola (1933)
Deutsch von Lizzie Siddal
Die Menschen sind Todesmystiker, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
Denkt man an Zola, bleibt man etwas peinlich berührt vor seinem Werk stehen; er ist uns noch zu nah, wir können ihn noch nicht gut genug beurteilen, in seinen Absichten, meine ich. Er spricht von Dingen, die uns sehr bekannt sind… Es wäre angenehmer, wenn sie sich ein wenig geändert hätten.
Man erlaube eine kleine persönliche Erinnerung. In der Weltausstellung von 1900 war man noch sehr jung, aber man hat die lebhafte Erinnerung behalten, dass es eine große Brutalität war. Füße vor allem, Füße überall und Staub in Wolken, die so schwer waren, dass man sie berühren konnte. Nicht enden wollende Menschenmengen defilierten, trampelten, zermalmten die Ausstellung und dann dieser rollende Fußweg, der bis zu der Galerie der Maschinen knarrte, die zum ersten Mal voll war von gefolterten Metallen, kolossalen Bedrohungen und Katastrophen in der Schwebe. Das moderne Leben begann.
Seit dem haben wir es nicht besser gemacht. Nach Der Totschläger haben wir es auch nicht besser gemacht. Die Dinge sind gleich geblieben, mit einigen wenigen Varianten. Hat er, Zola, zu gut gearbeitet für seine Nachfolger? Oder haben die Neuankömmlinge Angst vor dem Naturalismus gehabt? Vielleicht…
Heute wird der Naturalismus von Zola (mit den Mitteln, die wir haben, um an Informationen zu kommen) fast unmöglich. Man würde erst gar nicht mehr aus dem Gefängnis herauskommen, wenn man das Leben erzählen würde, wie man es kennt, mit dem eigenen Leben angefangen. Damit will ich sagen, wie man es seit zwanzig Jahren versteht. Schon Zola hat einiges Heldentum nötig gehabt, um den Menschen seiner Zeit einige heitere Gemälde der Wirklichkeit zu zeigen. Die heutige Wirklichkeit wäre niemandem erlaubt. Für uns sind daher die Symbole und die Träume! Alle Übertragungen, die das Gesetz nicht erreicht, noch nicht erreicht! Denn schließlich sind es die Symbole und die Träume, in denen wir neun Zehntel unseres Lebens verbringen, denn die neun Zehntel des eigentlichen Lebens, das heißt der Lebenslust, sind uns unbekannt oder verboten. Eines schönen Tages jedoch, werden auch die Träume verfolgt werden. Eine Diktatur steht uns bevor.
Die Stellung des Menschen inmitten seines Plunders von Gesetzen, Bräuchen, Wünschen, verknoteten, verdrängten Instinkten ist so gefährlich geworden, so künstlich, so willkürlich, so tragisch und so grotesk zur gleichen Zeit, dass die Literatur noch nie wie heute so einfach zu ersinnen war, aber noch nie so schwer zu ertragen. Wir sind überall umstellt von Ländern voller anaphylaktischer Knallköpfe; der kleinste Schock kann bei ihnen mörderische Konvulsionen ohne Ende auslösen.
Jetzt sind wir an das Ende gelangt von zwanzig Jahrhunderten hoher Zivilisation, jedoch sind in keinem Regime zwei Wörter der Wahrheit übrig geblieben. Ich meine, die marxistische Gesellschaft genau so wie unsere bürgerlichen und faschistischen Gesellschaften.
Der Mensch kann tatsächlich nicht überstehen in gleich welcher dieser vollständig brutalen und masochistischen Sozialgefüge, ohne die Gewalt einer permanenten und von Mal zu Mal massiveren Lüge, einer ständig wiederholten, rasenden, „totalitären“, wie man sie nennt. Ohne diesen Zwang würden unsere Gesellschaften in die schlimmste Anarchie zusammenbrechen. Hitler ist nicht das letzte Wort, wir werden noch epileptischere sehen, vielleicht hier bei uns. Unter solchen Bedingungen wird der Naturalismus politisch, ob er will oder nicht. Man bringt ihn zur Strecke. Wie glücklich waren jene, die das Pferd von Caligula beherrschten!
Das diktatorische Gebrüll geht hinaus zu den Unzähligen, die vom Spuk der Nahrung geplagt sind, der Monotonie der täglichen Aufgaben oder des Alkohols, die Myriaden von Verdrängten; all das ist vergipst in einem übergroßen sado-masochistischen Narzissmus, alles kommt aus Nachforschung, aus Erfahrungen und sozialer Ehrlichkeit. Man spricht mir oft von der Jugend, das Übel ist aber tiefer als die Jugend! An Jugend sehe ich tatsächlich nichts als einen aperitiven Elan, sportliche und automobilistische Begeisterung, Lust an Spektakeln, aber nichts Neues. Zumindest was die Ideen betrifft, hinken die Jungen den geschwätzigen, geldgierigen, mörderischen R.A.T.-Zertifizierten hinterher. Um in dem Punkt gerecht zu bleiben, stellen wir fest, dass die Jugend nicht mehr existiert, in dem romantischen Sinn, den wir diesem Wort noch verleihen. Ab dem Alter von zehn Jahren scheint das Schicksal des Menschen mehr oder weniger festgelegt, zumindest im Bereich der Empfindsamkeit; nach dieser Zeit besteht unser Dasein nur noch in faden, unnötigen Wiederholungen, die von Mal zu Mal unehrlicher und theatralischer werden.
Vielleicht erleiden alle „Zivilisationen“ letztendlich das gleiche Los? Unsere scheint jedenfalls in einer unheilbaren kriegerischen Psychose stecken geblieben. Wir leben nur noch für diese Art von zerstörerischer Dauerschleife. Betrachten wir die ranzigen Vorurteile und verdorbenen Nichtigkeiten, an welchen sich der absolute Fanatismus von Millionen angeblich entwickelter Individuen berauschen kann, die an den besten Schulen Europas ausgebildet wurden, sind wir durchaus befugt, uns zu fragen, ob der Todesinstinkt des Menschen in seinen Gesellschaften nicht schon längst klar über den Lebensinstinkt gesiegt hat. Deutsche, Franzosen, Chinesen, Walachen. Mit oder ohne Diktatur. Alles nur Ausreden, um den Tod zu spielen.

Es wäre mir recht, alles zu erklären mit den bösartigen Verteidigungreaktionen des Kapitalismus oder der extremen Not. Aber die Dinge sind weder so einfach, noch so abwägbar. Weder die tiefe Not, noch die polizeiliche Belastung, rechtfertigen das Massenfieber der extremen, aggressiven, ekstatischen Nationalismen ganzer Länder. Natürlich kann man den von vorneherein überzeugten Parteigängern die Dinge so erklären, den gleichen, denen man vor zwölf Monaten noch erklärt hat, dass der unausweichliche Triumph des Kommunismus in Deutschland kurz bevor stünde. Aber die Lust an Kriegen und Massakern könnte als eigentlichen Ursprung nur den Appetit auf Eroberung, Macht und den Vorteil der führenden Klassen haben. Man hat alles gesagt, aktenkundig gemacht und dargelegt und es hat niemanden abgestoßen. Der heutige einhellige Sadismus stammt vor allem aus einem im Menschen tief verankerten Wunsch nach Nichtsein und vor allem in den Menschenmassen, als eine Art unwiderstehliche, verliebte, gemeinschaftliche Ungeduld auf den Tod. Mit Koketterien, versteht sich, tausend Verleugnungen: der Tropismus ist trotzdem da und er ist umso mächtiger, da er vollkommen geheim und verschwiegen ist.
So haben die Regierungen die alten Gewohnheiten ihrer finsteren Völker übernommen, sie haben sich ihnen sehr gut angepasst. In ihrer Psychologie befürchten sie jede Änderung. Sie wollen nur den Hampelmann, den Auftragskiller, das maßgeschneiderte Opfer. Liberale, Marxisten, Faschisten sind sich nur in einem einig: Soldaten! Und nicht mehr und nicht weniger. In Wirklichkeit hätten sie keine Ahnung, was zu tun wäre mit wahrhaft pazifistischen Völkern…
Wenn unsere Meister zu dieser stillschweigenden Übereinkunft gelangt sind, dann ist es vielleicht so, dass sich die menschliche Seele letztlich klar in diese selbstmörderische Form kristallisiert hat.
Man kann von einem Tier alles erlangen durch Sanftheit und Vernunft, während die großen Begeisterungen der Massen, der langanhaltende Rausch der Mengen, fast immer ausgelöst und angeregt werden durch Dummheit und Brutalität. Zola musste keineswegs den gleichen sozialen Problemen in seinem Werk gegenüber treten, vor allem unter der jetzigen despotischen Form. Der wissenschaftliche Glaube war damals noch neu und gab den Schriftstellern seiner Zeit den Eindruck, dass es Gründe gäbe ‚optimistisch‘ zu sein. Zola glaubte an die Tugend, er gedachte, den Schuldigen einen Schrecken einjagen, wollte sie aber nicht zur Verzweiflung bringen. Wir wissen heute, dass das Opfer wieder und wieder nach einem Märtyrer ruft. Haben wir in unseren heutigen Schriften – jenseits der Einfältigkeit – noch das Recht, von irgend einer Art von Vorsehung zu sprechen? Man müsste schon über einen robusten Glauben verfügen. Alles wird tragischer und unabänderlicher, je tiefer man in das Schicksal des Menschen eindringt. Hört man auf, sich den Menschen vorzustellen und beginnt man, ihn zu erleben, wie er wirklich ist… Da entdeckt man ihn. Man will es noch nicht zugeben. Wenn unsere Musik sich ins Tragische wendet, dann hat sie ihre Gründe dafür. Unsere Wörter von heute, ebenso wie unsere Musik, gehen weiter als zu Zolas Zeiten. Wir arbeiten gegenwärtig durch die Empfindsamkeit und nicht durch die Analyse, aus dem Inneren, kann man sagen. Unsere Wörter reichen bis in die Instinkte und berühren sie manchmal, aber wir haben zugleich gelernt, dass dort unsere Macht endet, und zwar für immer.
Unser eigener Coupeau trinkt nicht mehr so viel wie der Erste. Er deliriert dennoch weit mehr. Sein Delirium ist ein Großraumbüro mit dreizehn Telefonen. Er gibt der Welt Befehle. Er mag die Damen nicht. Er ist auch rechtschaffen. Man gibt ihm die höchsten Auszeichnungen.
Im Spiel des Menschen, hat sich der Todesinstinkt, der verschwiegene Instinkt, vielleicht sehr gut neben den Egoismus platziert. Er hat den Platz der Null im Roulette. Das Kasino gewinnt immer. Der Tod auch. Das Gesetz der hohen Zahlen arbeitet dafür. Das ist ein Gesetz ohne Fehl. Was wir auch unternehmen mögen, entweder so oder anders, stößt sich an ihm und wendet sich zum Hass, zum Düsteren, zum Lächerlichen. Man müsste eine äußerst sonderbare Begabung haben, um von anderem als dem Tod zu sprechen, in Zeiten wie heute, wo auf der Erde, auf den Wassern und in der Luft von sonst nichts die Rede ist. Ich weiß, dass man noch auf dem Friedhof Musette tanzen oder im Schlachthaus von der Liebe sprechen kann, der Autor von Komödien behält seine Möglichkeiten, aber es ist eine Verlegenheitslösung.
Wenn wir in der Zukunft normal sein werden, ganz so wie unsere Zivilisationen es verstehen, es wünschen und bald verlangen, dann enden wir, denke ich, damit, dass wir ganz und gar in Bösartigkeit ausbrechen. Als einzige Zerstreuung werden sie uns den Zerstörungsinstinkt lassen. Diesen kultiviert man seit der Schulzeit und pflegt ihn während der ganzen Dauer des sogenannten Lebens. Neun Zeilen Verbrechen und eine Zeile Langeweile. Wir werden alle im Chor untergehen, mit Vergnügen insgesamt, in einer Welt, die wir fünfzig Jahrhunderte in den Stacheldraht der Einschränkungen und der Angst eingefasst haben.
Vielleicht ist es einfach Zeit, Zola gebührend zu ehren, am Vorabend eines riesigen Zusammenbruchs, eines weiteren. Es kann nicht mehr darum gehen, ihn nachzuahmen oder ihm zu folgen. Wir haben offensichtlich weder die Gabe, noch die Kraft, noch den Glauben, die nötig sind, um die großen Seelenbewegungen zu erschaffen. Hätte er denn seinerseits die Kraft gehabt, über uns zu urteilen? Seit er gegangen ist, haben wir ganz schön seltsame Dinge über die Seelen erfahren.
Der Menschenweg ist eine Einbahnstraße, der Tod hält Einzug in alle Cafés, es ist ein Schafkopfspiel „aufs Blut“, das uns anzieht und nicht mehr loslässt.
Das Werk von Zola ist für uns in mancherlei Hinsicht wie das Werk von Pasteur, so dicht und immer noch so lebendig, in zwei oder drei Punkten grundlegend. Bei diesen beiden Männern finden wir, transponiert, die gleiche, peinlich genaue Technik der Schöpfung, die gleiche Sorge um experimentelle Aufrichtigkeit und vor allem diese verblüffende Fähigkeit der Demonstration, die bei Zola episch wurde. Es brauchte viel Liberalismus, um die Dreyfus-Affäre zu ertragen. Wir sind von diesen Zeiten weit weg, trotz aller Akademien.
Manchen Traditionen folgend, sollte ich diese kleine Arbeit vielleicht mit einem Ton des guten Willens und der Zuversicht abschließen. Aber was können wir vom Naturalismus erhoffen in den Bedingungen, die uns umgeben? Alles und nichts. Eher nichts, da die geistigen Konflikte die Masse von heute in zu größer Nähe zu sehr ärgern, um länger toleriert zu werden. Der Zweifel verschwindet gerade aus dieser Welt. Man bringt ihn zeitgleich um, mit den Menschen, die ihn in sich tragen. Das ist sicherer.
Wenn ich in meinem Umfeld das Wort „Geist“ höre, spucke ich auf den Boden! Das teilte uns einer aktueller Diktator mit, der genau dafür angehimmelt wird. Man kann sich nur fragen, was dieser Unter-Gorilla tun würde, wenn man ihm vom „Naturalismus“ spräche.
Seit Zola ist der Albtraum, der den Menschen umgab, nicht nur genau, sondern auch offiziell geworden. Ebenso wie unsere „Götter“ mehr Macht erlangen, werden sie auch grausamer, eifersüchtiger und dümmer. Sie organisieren sich. Was soll man ihnen sagen? Man kann sich nicht mehr verständigen.
Die naturalistische Schule wird ihre Aufgabe erledigt haben, denke ich, sobald sie in allen Ländern der Welt verboten sein wird.
Das ist ihr Schicksal.
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