Rezension

Herbert Achternbusch – Teil 1

„Das Andechser Gefühl“ ist Achternbuschs einfachster Film und gilt auch als sein Erster. Deswegen ist er vielleicht ein guter Einstieg. Es ist ein Biertraum von „Italien“ mit tragischem Ende und die Handlung beschränkt sich auf zwei Tage: Heute und Morgen. Am Anfang werden diese beiden Tage ahnungsvoll in einander geschnitten bis sich Morgen endgültig in Heute verwandelt.

Heute sitzt ein Lehrer im Biergarten von Andechs. Seine Taschenuhr erinnert ihn an Morgen, denn Morgen wird über sein Schicksal entschieden: Verbeamtung auf Lebenszeit oder Arbeitslosigkeit. Ein Schulrat wird seinem Unterricht beiwohnen, um ihn zu beurteilen. Der Lehrer lässt seine Taschenuhr in sein Bier fallen, trinkt, verschluckt sich daran, wird kreidebleich und stirbt fast. Die hilfreiche Kellnerin eilt herbei und schüttet ihm ein Bier über den Kopf. Er spuckt die Uhr aus und wundert sich darüber, wie spät es schon sei. Er denkt, dass er Morgen sterben muss und er denkt weiter, dass die Filmschauspielerin folglich noch heute kommen müsse, um ihn noch lebend anzutreffen. Sie ist seine frühere Geliebte und kommt schon den geschlängelten Weg angefahren in ihrem gelben Auto, ihrem gelben Kleid und den gelben Haaren, ganz wie ein goldener Traum steht sie vor ihm. Sie freuen sich, aber plötzlich schweigen sie. Was hat man sich zu sagen? Nichts. Aber die Zeit im Biergarten ist wie angehalten und das Biertrinken verbindet. So sprechen sie im Chor:

„Das Andechser Gefühl, ist ein Gefühl, dass man nicht allein ist.“

Aber hat sich Morgen vielleicht schon angeschlichen? Der Lehrer ist schon in der Schule und hält eine Unterrichtsstunde über das Menschenhaar:

„Wenn einer von euch auf die Universität kommen sollte, wird er den prozentualen Unterschied zwischen Morgenausfall und Abendausfall erfahren. Für euch übrigen reicht, dass wir am Tag 120 Haare verlieren. Übrigens wächst das Haar im Sommer schneller als im Winter.“

Vielleicht ist dem Lehrer sein Wissen sinnlos geworden und deswegen spricht er so gelangweilt. Der Schulrat ist aber nachsichtig und erklärt, dass die Weltanschauung wichtiger sei, als eine missglückte Unterrichtsstunde. Doch in einem Verhör stellt sich heraus, dass die Ansichten des Lehrers höchst desillusioniert und anti-propagandistisch sind. Warum ist der Schulrat trotzdem zufrieden und lässt den Lehrer die Prüfung bestehen?

Zurück im Biergarten nimmt das holprige Gespräch seinen Lauf. Alles redet über die Filmschauspielerin und ein Mann schneidet sich das Ohr ab, zum Zeichen, dass sie schön ist. Eine junge Frau will ein Autogramm, doch zwei Burschen fangen grundlos eine Schlägerei an und dabei wird die Schauspielerin am Kopf getroffen und fällt in Ohnmacht. Der Lehrer trägt sie weg. Als sie aufwacht, weiß sie nicht mehr, ob sie seine Mutter ist oder nicht. Er fragt:

„Magst du immer noch solche Filme, in denen hundert Mädchen auf hundert Harfen spielen, hundert Mädchen als hundert Blütenblätter, hundert Mädchen in hundert Betten, hundert Mädchen…“

(Diese Stelle habe ich ausgewählt, weil sie ein Beispiel ist, für die Art, wie Achternbusch mit Zahlen umgeht, sie lyrisch verfremdet. Denn was kann für einen Menschen, der zur Vereinzelung verdammt ist, die Vielheit von Menschen sein? Man kann nicht für zwei Menschen das Doppelte empfinden, wie für einen und für eine Millionen Menschen eine Million mehr als für die eigene Mutter. Oder?)