„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“
Die Aussage klingt ziemlich gigantisch. In der Schule habe ich das seitens des Lehrers, der uns über die Aufklärung aufgeklärt hat, sogar als verdeckten Vorwurf empfunden oder als: „Was euch auch passiert im Leben, ihr seid selbst schuld.“ Als Denkansatz klingt das jedenfalls fulminant und man erwartet eine konkrete Beschreibung eines radikalen Ausgangs. Jedoch findet man eine solche Beschreibung in Kants berühmtem Text nicht. Er sagt ganz deutlich, dass z.B. ein Angehöriger des Militärs nicht einen Befehl verweigern könne, ebensowenig wie ein Angestellter einfach seine Arbeit niederlegen und heimgehen dürfe. Dem Erlass des Herrschers müssen sich alle beugen. Aber, wenn man innerlich diese Handlungen nicht für richtig halte, dann könne man seine diesbezüglichen Ansichten nach der Arbeit aufschreiben und einem Verlagshaus anbieten. Ganz so konkret wird Kant nicht, vielleicht meinte er auch, man könne seinen Text ja selbst drucken, wenn man eine Druckerpresse zu Hause hat. Jedenfalls müsse man anschließend abwarten.
Vielleicht wurde Kant auch falsch verstanden und er meinte gar nicht, dass jede Unmündigkeit (oder Sklaverei) selbstverschuldet sei, sondern dass die Aufklärung dazu dienen mag, dem Menschen aus dem Teil der Unmündikeit herauszuhelfen, den er selbst verschuldet (=verursacht). Und in der Ausübung dessen, können man vielleicht die Ansichten der Anderen ein Stückweit verändern. Was realistisch klingt. Dass man die Aufklärung aber braucht, scheint zu zeigen, dass ohne sie eine Art Missverständnis vorliegt und dass viele Menschen gar nicht erkennen, dass sie zum Teil selbst- und zum anderen Teil fremdverschuldet unmündig sind. Und wenn eine Unmündigkeit vorliegt, die ausgerechnet seitens der Unmündigen nicht erkannt wird, dann liegen einige Vermutungen nahe, zum Beispiel, dass es Mündige gibt und dass das Nichterkennen seitens der Unmündigkeit in Bezug auf ihre Situation nicht ganz zufällig ist, sondern womöglich kultiviert wird, wobei die Mündigen hier auch im Verdacht stehen, Unaufklärung zu befördern. In dieser Beschreibung sieht man auch schon, dass die Aufklärung selbst, davon bedroht ist, zur Scheinaufklärung zu werden.
Vielleicht ist jedenfalls der Text von Kant klarer, als er scheint und wir haben die Aufklärung seit dem Idealismus einfach nicht weiter betrieben, sondern haben nur so getan als ob. Man sagt heute gerne, „die Menschen müssen ins Handeln kommen“ und damit wird oft Streik, Generalstreik, Revolution, politischer Machtwechsel und von Manchen sogar Krieg gemeint. Die Zeit wird es vielleicht zeigen, dass diese Dinge gar nichts helfen. Eigentlich hat es die Zeit schon mehrfach gezeigt.
Als ich mich umdrehte, war das Schloss immer noch da. Das wunderte mich nicht besonders, denn das Schloss war mir schon seit Tagen gefolgt.
Als Münchnerin philosophiere ich am liebsten im Nymphenburger Park. Ich gerate in eine Trance der Nachdenklichkeit, während meine Schritte und meine Gedanken sich gemeinsam entwickeln – Gehen und Nachdenken, das ist so ähnlich, wie Schreiben und Nachdenken. Aber Gehen und Denken sind nie dasselbe, sie treten nur gern gemeinsam und gleichzeitig auf. Das Regenwetterlicht machte mich melancholisch und verlieh der Atmosphäre etwas von Größe und stiller Gewalt. Ich erinnere mich noch, wie das Schloss zu leuchten begann, als ich gerade über das Denken nachdachte und seine Rolle in der Welt. Meine mailändischen Schuhe (in Wirklichkeit hatte Thailand sie hervorgebracht) begannen zu drücken und ich erkannte die Notwendigkeit zu verreisen. In der Tram sah ich diesen Umstand noch deutlicher und als ich an den Gärtnerplatz gelangte, hatte ich einen Plan. Paris. Pläne schmieden raubt meine ganze Aufmerksamkeit und so muss mir entgangen sein, dass mich das Schloss verfolgte – vielleicht aus Reiselust, ich weiß es wirklich nicht. Das Schloss verfolgte mich wie ein hungriges Tier, eines, das mich auffressen wollte oder eines, das mich als Nahrungsspender auserkoren hatte. Immer wenn ich mich umdrehte, stand es da und tat so, als hätte es immer dort gestanden. In Paris habe ich versucht, mit dem Schloss Kontakt aufzunehmen, doch es schwieg beharrlich. Ich fragte es, ob es sich vielleicht den Spaß erlaubte, mich in den Wahnsinn zu treiben oder zu verblüffen, doch das Schloss stand still und fest, mit Regengewalt. Denn das Wetter verfolgte mich gleichfalls. „Sei´s drum“, dachte ich, „es wird schon aufgeben, früher oder später.“ Manchmal beunruhigte es mich. Manchmal versteckte sich das Schloss, um wieder aufzutauchen, dann musste ich fast lächeln und sagte zu mir: „Gut, dann habe ich eben ein Schloss. Zwar nicht auf die Art, wie ich es gerne hätte, aber immerhin, besser ein folgsames Schloss, in dem es sich nicht wohnen lässt, als keins.“ Ich hatte noch genug Geld, aber ich wollte nicht in Paris bleiben. Eigentlich hatte ich nur noch den Wunsch, das Schloss loszuwerden. Denn so war die Situation ja noch recht angenehm, aber wenn das Schloss noch zutraulicher würde, so dachte ich, dann könnte ich keine Räume mehr betreten, weil es jedes Café und jede Wohnung mit seiner Gegenwart sprengen würde. Wo ich auf Cafés zu denken kam, fiel mir Wien ein, wo ich auch gleich meine Schwester besuchen konnte. Also ging ich nach Wien. Mit einer gewissen Enttäuschung bemerkte ich, dass ich meine Schwester nicht eben in Freude versetzte, als ich – Koffer in der Hand – vor ihrer geöffneten Türe stand. Sie begann fast sofort, mir etwas über Stress und Krankheit zu erzählen, über einen Streit mit F. und über eine Depression infolge von zu vielen Kunstfilmen. Welche Art von Kunstfilmen, wollte ich wissen, als ich mich behaglich-unbehaglich bei ihr umsah. Wenn ich zu meiner Schwester eile, vergesse ich manchmal, dass unsere Gemeinsamkeiten unserer Beziehung abträglich sein können. Wenn sie mich missgelaunt auf einen Kaffee einlädt und dabei eine gewisse Reizung in der Stimme bemerkbar wird, steige ich sofort auf den gleichen Zug und werde meinerseits heikel. „Ich bin nur auf der Durchreise“, versuchte ich, sie zu beschwichtigen, andererseits wollte ich sehen, ob sie hierauf gekränkt reagieren würde und mich vielleicht doch bei sich wollte. Sie sagte sofort: „Nein, du musst hier bleiben, wir sehen uns ein wenig die Stadt an, ich muss dir so viel erzählen!“ „Fahren wir nach Sankt Petersburg“, antwortete ich inspiriert ob ihrer Zuneigungserkärung. „Dort werden wir uns alles sagen!“ Sarah war etwas überrumpelt, fand die Idee aber nicht schlecht, denn die Kunstfilme, die sie sich angesehen hatte, waren sämtlich von Tarkowski. Da ich von ihr ein glattes „Nein“ erwartet hatte, wurde ich durch ihren Zweifel motiviert. Ich sprach davon, dass man nie weiß, wann man stirbt, dass wir einander, wie sie ja selbst zugegeben hatte, viel zu sagen hatten und dass eine Luftveränderung ihr nur gut tun konnte, angesichts der prosaischen Widrigkeiten ihres Lebens. Ihre Augen glänzten auf vor Lust und erinnerten mich an das Aufglänzen des Schlosses. Ich war fast versucht, ihr die Geschichte zu erzählen, aber ein schlechtes Gewissen verhinderte dies. Gleichzeitig blickte ich aus dem Fenster und sah es – wie es mich anglotzte. Ich schluckte, wie man so sagt, aber ich schluckte, als hätte ich einen Stein verschluckt. Wir fuhren nach Sankt Petersburg, Sarah hatte sich frei von allen Bedrängnissen gemacht und ich hatte günstige Tickets besorgt, auch das Visum bekamen wir leicht, ich zahlte alles, denn als Schlossbesitzerin hatte ich ja genug Geld, wie ich mir sagte. Am Flughafen glotzte mich mein Schloss durch eine verglaste Wand an und ich wusste langsam nicht mehr, wie lange ich das aushalten würde. Fast traute ich mich nicht mehr, meiner Schwester in die Augen zu sehen. Als wir mit Pulkova Airways in Sankt Petersburg landeten, herrschte der Nebel. Er herrschte über die Stadt, als sei sie die Welt und als ob es hinter dieser Welt keine weitere Welt gäbe. Es war, wie die berühmten tausend Stäbe. Stundenlang warteten wir in der Schlange wegen der Passkontrolle und endlich ließ man uns ins Nichts frei. Mit dem Taxi fuhren wir zum Hotel, im Hotel begegnete man uns sehr kalt, wir waren müde und frustriert, außerdem hatte ich unterwegs mein Schloss gesehen – in den Wolken, als wir im Himmel waren – und es drückte mich, davon etwas zu sagen, aber ich hatte zu viel Angst. Der Nevskji Prospekt war viel gemeiner, als ich es mir vorgestellt hätte, sogar das Marinskji Theater bewegte uns nicht, der Schwanensee rührte mich zwar zu Tränen, aber ich weiß nicht warum, vielleicht war ich müde und depressiv und viel zu allein. Aus den Augen der Tänzerinnen starrte mich mein Schloss an und ich biss mir aus Versehen auf die Zunge. Abends in einer Kneipe wussten wir beide aus einer leichten Vorahnung heraus, dass wir kurz vor einem Besäufnis standen, wir unternahmen jedoch nichts dagegen, weil Sarah an ihr Leben dachte und ich an mein Schloss. Wir betranken uns so gnadenlos, dass meine Zunge nicht mehr konnte, ich sah nur noch Schlösser überall. Wir stritten uns zuerst über Kleinigkeiten, dann fingen wir an zu konkurrieren, wer von uns die Unglücklichere sei, wer von uns noch weniger Zukunft vor sich habe und schließlich geriet ich so in Rage, dass ich rief: „Ich habe ein Schloss! Ich habe ein Schloss gesehen! Es verfolgt mich!“ Damit hatte ich ihr kurz den Wind aus den Segeln genommen, ganz benommen blickte sich mich an und fragte: „Echt.“ „Ja, ich habe es gesehen und es geht mir nach, es lässt mich nicht mehr in Frieden.“ Sie verdeckte ihre Augen mit den Händen und sagte: „Oh Gott, Elsie, wie schrecklich. Oh Gott.“
Ich habe ein sehr gutes Buch von W. B. Yeats mit dem Titel „The trembling of the veil“. Man könnte den Titel übersetzen mit „Das Zittern des Schleiers“. Bei Schleier denkt man, dass sich ein Mensch, vermutlich eine Frau dahinter befindet, die verhüllt wird. Meistens wird etwas oder jemand verhüllt, ein Mensch, tot oder lebendig, oder nichts, um zu verheimlichen oder (bei Gelegenheit) zu enthüllen, dass nichts hinter dem Schleier ist, dass eigentlich nichts angebetet oder angestaunt oder mystifiziert wird. Könnte natürlich auch sein, dass ein Geist dahinter ist, der die Bewegung in den Schleier bringt, durch Atem oder Bewegung… ? Das Spannende an dem Titel ist eben die Enthüllung oder auch, dass die Enthüllung nicht nötig ist, weil man versteht, WESHALB der Schleier zittert. „Der Hauch hinter dem Schleier“, vielleicht?
Es gibt immer wieder Menschen, die etwas Ähnliches versuchen, was schon andere versucht haben und es täte sehr gut, wenn die neueren Versucher über die Fehler und Einsichten ihrer Vorgänger Bescheid wüssten. Das wäre sogar der eigentliche Sinn vom Lernen aus der Geschichte. Vielleicht ist es sogar der einzig wahre Sinn der Geschichte.
Mit Geschichte meine ich natürlich nicht „Narrative“ oder seine neudeutsche Übersetzung. Denn Narrativ impliziert, dass es nur um eine festgelegte Erzählweise geht. An einer Erzählweise sind bestimmte Eckpunkte oder Knotenpunkte wichtig, aber nicht unbedingt richtig. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Kultivierung der Lüge.
Hier unten in dem Schaubild sieht man eine Zusammenfassung des Prozesses. Am wichtigsten ist der letzte Punkt „intended response“, der in Wirklichkeit der erste Schritt ist. Man beginnt in der Semiotik damit, dass man eine bestimmte Reaktion eines Betrachters beabsichtigt. Nach diesem Ziel wählt man dann Zeichen, Kontext, Bedeutung etc.:
Es gibt Elemente der „Sprache“ (im weitesten Sinn, wie Semiotik Sprache ansieht. Beispiel. Wenn du vor einen Chef trittst in seinem Büro und er einen enorm großen Tisch vor sich hat, dann ist das innerhalb seiner Sprache, egal, was er sonst sagt: „Ich bin so enorm wichtig, wie mein Tisch groß ist. Was willst du von mir?“) und Methoden, die dem Ausbau oder der Machtergreifung dieser permanenten Lüge in den Köpfen der Menschen förderlich sind. Man muss diese Elemente und Methoden nicht durchschauen, um sie richtig anzuwenden. Daher lernt man sie in Schulen und Universitäten. Es ist ein Modell zum Zusammenbauen.
„Semiotik ist im Prinzip die Disziplin, die alles untersucht, was verwendet werden kann, um zu lügen. Wenn etwas nicht zum Lügen verwendet werden kann, dann kann es umgekehrt nicht dazu dienen, die Wahrheit zu sagen: es kann überhaupt gar nichts aussagen”. (Umberto Eco, A Theory of Semiotics, 1976).
Es gibt eine seltsame Verdrehtheit in diesen Sätzen. Eine untersuchende Disziplin (das klingt tugendhaft oder militärisch oder beides, obwohl Tugend und Militär möglicherweise unvereinbar sind), die das Lügen untersucht, sollte sich eigentlich auf das Lügen konzentrieren und nicht auf die Gegenstände, die zum Lügen verwendet werden.
Und warum ist Eco in seiner zentralen Definition so ehrlich zu sagen, dass es nur um das Lügen geht. Wenn die Aufgabenstellung wäre, alles zu studieren, was verwendet werden kann, um ehrlich zu sein oder um die Wahrheit zu entdecken (das ist normalerweise nicht das gleiche), dann würde man möglicherweise andere Gegenstände betrachten und zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen.
Ich würde sogar sagen, es gibt noch ein Drittes, was zur Produktion von „Narrativen“ nötig ist, also Elemente, Methode und – Stimmung. Ich möchte das ganz kurz erläutern an einem Studenten. Er lernt 1. Elemente, das sind Wörter (Fachbegriffe etc.) selbst und feste Wortkombinationen, 2. Methode, nämlich Sätze bilden aus Elementen, die in sich schlüssig sind und auf Zustimmung in Universitätskreisen stoßen und dann noch 3. eine „Stimmung“, die beides trägt, zum Beispiel die Stimmung „Wir sind Experten unter uns“ (diese Stimmung ist sehr typisch für Universitäten). So eine Stimmung ist eine sehr von außen auf sich schauende Stimmung. Nicht eine Stimmung, die von innen kommt, sondern eine Stimmungsreaktion auf andere. Früher nannte man das Eitelkeit, heute nennt man es häufig Ego.
Ob der Träger dieser Elemente, Methoden und Stimmung nun den tieferen Sinn, des zu bildenden Narratives wirklich versteht, welches er unterstützt, ist nicht wichtig. (Wichtig ist, dass einige Schlüsselpersonen in Machtstellungen genau wissen, worum es geht und alles im Blick haben.)
Warum setzt man dieses Narrativ ein?
Unter anderem, um „wahre Logik“ zu unterdrücken. Blenden wir kurz ein Bild ein: ein Mann zielt mit Pfeil und Bogen auf einen faustgroßen Stein auf dem Boden. Was denkt man? Man denkt, dass der Pfeil zu schwach ist, um etwas am Stein zu bewirken und man fragt sich, was der Sinn dieser Handlung sein könnte. Man denkt also über Ursache und Wirkung und über Verursacher und Absicht nach.
Natürlich kann man immer alles abstrahieren und meinen, der Vorgang dieser Abstraktion wäre viel nobler als die banalen Fragen: was trifft auf was und was ist die Absicht dahinter? So denken Tiere, vor allem, wenn es ums Überleben geht. Und ich kann nicht sagen, dass sie Unrecht haben.
Ich möchte hinzufügen, als Anstoß, wenn man den Text „Was ist Denken“ von Heidegger liest, dann sollte man sich nach Heideggers Absicht fragen in seinem Setzen der Wörter, statt nach seinen Elementen (Wörtern und ‚auseinandergesetzen Wörtern‘) zu greifen und diese nach der Methode der Universität wieder zusammenzubauen. Natürlich wird man an der Universität akzeptiert, wenn man Heidegger liest, seine Schlagwörter nimmt, seine bestimmten Wort-Trennungen usw. und den Rest mit gefälligem Gebildetendeutsch füllt. Aber das ist nicht seine Methode und auch nicht das, was er vorschlägt… Ich glaube, Heidegger hätte Ezra Pound zugestimmt, als dieser meinte: „Wir denken, weil wir nicht wissen.“ Es gibt bestimmte Prozesse, die Wissen generieren können. Der semiotische Prozess gehört nicht dazu. Und zwar, weil er sich am besten zum Lügen eignet. Der Beweis? Die semiotische Theorie findet ihre beste Anwendung im Marketing, in der Werbung. Beispiel. Die aufgeblasene, metallisch glänzende, meist rot und goldene Verpackung von Chips (minderwertige und überteuerte Lebensmittel, die aber sehr knusprig sind), wirken auf den zufälligen Passanten, der eigentlich Babykarotten kaufen wollte, appetitanregend, um es vorsichtig zu formulieren, sie wecken bei ihm Gier und Heißhunger. Das klingt harmlos, aber diese Person wollte womöglich gerade ein gesünderes Leben anfangen, als sie ‚gehackt‘ wurde von semiotischen Werbefuzzis.
Ein anderes Beispiel. „Race for the White House“. Die USA sind bei weitem am Fortgeschrittensten in den Werbekampagnen von Politikern. Dem Zufall wird nichts überlassen. Und ich empfehle dem Skeptiker, zuerst 10 Fotos der berühmtesten Demokraten – 10 Fotos der berühmtesten Republikaner gegenüberzustellen. Es kann niemandem entgehen, dass diese ersten 10 auffällige Gemeinsamkeiten im Gesicht haben, ebenso wie die zweiten 10. Ich überlasse jedem die Analyse hiervon und schreibe nur ganz kurz meine Eindrücke. Der Demokrat wirkt insgesamt, als ob er nach oben blickt, sozusagen zu einem Engel, den er in seinem Gesicht dann nachahmt, sie sind etwas zu heilig, um wahr zu sein. Der Republikaner wirkt, als ob er eher auf die Erde schaut, entsprechend ist sein Gesicht häufig runder oder kantiger im Kiefer, er schaut auf keine Engel, er ist zu „schlau“. („Schlau“ ist die Übersetzung von „smart“. Heute sagt fast keiner mehr „intelligent“. Das Beste, was man über einen Menschen sagen kann ist, dass er „smart“ ist, siehe der Sprachgebrauch von Donald Trump und Elon Musk. Ich habe die beiden noch nie von Intelligenz sprechen hören, nur den zweiten von „künstlicher Intelligenz“. Bei einem eigentlichen Menschen ist das höchste der Gefühle aber „smart“.)
Der Republikaner ist gleichzeitig Cowboy und reicher Geschäftsmann. Und Ronald Reagan war daher seine perfekteste Darstellung. Der Cowboy (Arbeiter in der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert) und der Geschäftsmann (auf-dem-Stuhl-Sitzer und höchstens Hobbysportler oder Golfer) haben eigentlich nichts gemeinsam, aber das stört die Propaganda nicht. Sieht man sich in diesen Überlegungen Putin an, merkt man, dass er „Republikaner“ ist, ironischerweise? Manchen gilt er als Ex-KGB und Erzkommunist. Tiefe Widersprüche sind nicht das Problem von Semiotikern, im Gegenteil, der gerade stattfindende Krieg ermöglicht es allen Parteien, gegen die Nazis zu kämpfen (the hero against the villain), obwohl diese gegenseitig kämpfenden Parteien, „Nazis“ oder „Faschisten“ nicht definieren könnten, noch jemals auf die Idee kämen, einander zu fragen, wie es sein kann, dass sie einander bekämpfen, obwohl sie das gleiche bekämpfen? Aber das ist ein Tabu.
(Noch ein Beispiel. Kanye West hat sich zumindest ein Mal sinnvoll geäußert, als er sagte: „Wir“ – Er meinte dabei sich und seinesgleichen. – „Sind nicht die Illuminati, wir sind Gesichter von Marken.“)
Zeichen können alles Mögliche sein, womit man lügen kann, folglich können sie ein Buchstabe sein (siehe gerade ein Buchstabe, der sich in Russland ausbreitet, obwohl er gar nicht in dem kyrillischen Alphabet existiert. Ich nenne ihn aus politisch korrekten Gründen „ts“.), ein Wort, eine feste Wortverbindung, ein Bild, ein Schnurrbart, eine Frisur (siehe die Abstraktion und Reproduzierbarkeit von Andy Warhol), Mikey Mouse Ohren, ein Geruch (siehe Parfüms), ein Auto (Statussymbol), eine Schriftart (so binden Zeitungen ihre Leserschaft, Süddeutsche, die Zeit, Bild usw.) und im Grunde alles, womit man lügen kann. Was ist mit Zahlen? Nichts einfacher als das. Wenn man zum Beispiel möchte, dass ein medizinisches Produkt, das man verkauft, als 99,98 % wirksam angesehen wird, wäre es am besten, dass man einfach genau das semiotisch zeigt, indem man die Zahl in dem Zusammenhang wiedergibt. Das wirkt auch sehr wissenschaftlich und passt sehr gut zum Slogan „Science will win“. Probleme können nur von juristischer Seite herkommen und dann kann man entweder 1. Die Idee aufgeben oder 2. Eine gemeinsame Lösung finden, die für alle notwendigen Parteien angenehm und vorteilhaft zugleich ist. Man muss immer an die Gemeinschaft denken und zu einer gemeinschaftlichen Ver…gewisserung und Ver…ständigung kommen.
Damit diese Ver…bindlichkeit nicht mit Verschwörungserzählungen verwechselt wird, braucht es nur einen Gesichtsausdruck (ein Zeichen).
In Wirklichkeit ist ein Gesichtsausdruck kein „Zeichen“ in einem semiotischen Sinn, sondern ein „Anzeichen“ für eine Gemütsregung. Schauspieler lernen, diese zu imitieren oder eine Gemütsregung in der Vorstellung zu durchleben und dadurch den Gesichtsausdruck zu erhalten. Es klappt nur eingeschränkt gut, aber die Menschen sind sehr stark konditioniert, „Schauspieler“ zu sehen und zu akzeptieren. Also vor allem Menschen, die nicht aus ihren eigentlichen Impulsen heraus sprechen. Alle Nachrichtensprecher gehören dazu. Bei vielen ist Tucker Carlson von Fox sehr beliebt, aber er hat keinen Ausdruck in den Augen. Zwar runzelt er gerne die Stirn, um von seinen ausdruckslosen Augen abzulenken und bewegt sehr intensiv seinen Mund, aber etwas stimmt nicht an dem Gesamteindruck.
Politiker gehören dazu. Trump erinnert ein wenig an Carlson, indem er ebenfalls sehr stark mit dem Mund redet, so stark, dass es so scheint, als würde dieser Mund ganz alleine sprechen. Und sein Mund erinnert wirklich etwas an eine Trompete, weil er seine Lippen so nach außen stülpt, wie ich es noch nie ‚in der freien Natur‘ gesehen habe.
Unsere neue Außenministerin wird oft verspottet, weil sie den Anschein macht, Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache zu haben. Ich glaube nicht, dass es so ist, sie kann nur nicht die Texte sprechen, die man ihr vorgibt, weil diese Texte vollkommen absurd sind. Kleinen Kindern passiert oft etwas ähnliches, wenn sie versuchen mit „Erwachsenenwörtern“ zu reden und die Zustimmung der Erwachsenen dadurch zu bekommen. Sie vertauschen dann versehentlich ein Wort und es entsteht eine Komik, weil es fast nach Satire klingt. Vielleicht hat die Außenministerin eigentlich ein ähnlich gutes Gehirn wie ein Kind, es denkt dann vielleicht „Ob du jetzt ‚Schwergewicht“ oder „Schwergesicht“ sagst, kommt aufs Gleiche raus, weil es keinen Sinn ergibt, nimm einfach das Wort, was deine Zunge spontaner will.“ Das Reimen und Assoziieren ist auch normal. Ich erinnere mich an eine Zeit, wo ich immer wieder den Drang hatte, „Gesicht“ zu sagen, statt „Gedicht“. Ich glaube nicht, dass es so weit kam, dass ich das eigentlich in gesprochener Sprache verwechselt habe, aber der Impuls ist nicht anormal.
Ihr vorgegebener Satz war eigentlich: „Kann ein Europa ein Schwergewicht sein?“
Schon bei „ein Europa“ muss man sich fragen, ob es mehrere gibt oder ob sie an Parallelwelten glaubt?
Insgesamt muss man sagen, dass der Satz so sinnvoll ist, wie: „Kann ein Europa ein Pferd sein?“
Das wäre auch kein sinnloser Satz. In einer Stelle von „Die Republik“ sagt Platon, dass ein Volk oder ein Land wie ein Pferd ist. Manche Leute sind die Beine davon (die Arbeiter) und andere sind der Kopf (die Philosophen). Trotzdem zeigt es die Grenzen des Vergleichs oder der Analogie, denn über die anderen Körperteile eines Pferdes äußerte sich Platon nicht. Und auch hier erinnert es ein wenig an Kinderdenken und Kinderzeichnungen von Kopffüßern.
Schematische Darstellung dieser platonischen Idee.
Man fragt sich natürlich trotzdem, ob ein Volk wie ein Pferd ist, indem manche Volksteilnehmer einfach am besten geeignet (begabt) sind, um gedankenlos zu arbeiten und andere dafür geeigneter sind um nicht zu arbeiten, aber für die Arbeiter nachzudenken.
Ein Gehirn würde auch nie auf die Idee kommen, die Beine „seines“ Körpers „auszunützen“ (marxistischer gesagt: „auszubeuten“), um selbst nicht laufen zu müssen, es kann ja gar nicht laufen. Hingegen besteht so ein Volk aus mehreren getrennten Körpern, wo ein jeder Körper Beine, Gehirn und noch manch andere Körperteile hat. Aus diesem Grund hat man die Menschheit gerne mit Bienen verglichen, die Arbeiterbienen, die Königin und einige Funktionäre (?). Auch die Asexualität der Arbeiterbienen hat viele Denker inspiriert, die möglicherweise die „Woke“-Kultur ankurbeln.
Aber kann 1 Europa nun 1 Schwergewicht sein? Ich persönlich glaube nicht, dass die Schöpfer dieses Satzes an Übergewichtige gedacht haben, aber im Hinterkopf hatten sie das natürlich trotzdem.
Also warum sollte 1 Europa 1 Boxer aus der Schwergewichtsklasse werden? Ich persönlich würde Boxen einfach abschaffen, ich sehe keinen Sinn für die Teilnehmer und auch nicht für die Zuschauer. Man muss es nicht gleich verbieten, aber auch nicht fördern durch Werbung etc. Die Boxer bekommen durch die Erschütterung der Schläge oft bleibende Schäden in ihren Gehirnen. Wozu? Ja, und warum sollte jetzt Europa, eine Gegend mit sehr vielen Menschen „1 Boxer“ werden?
„Abends. Arbeit. Kino „Helden des Alltags“. Amerikanischer Film. Zwar Kitsch, aber heroisch. So ist jetzt das Weltgefühl.“
Goebbels, Tagebücher, 08.06.1933
Das kann schon sein, dass das Weltgefühl so war und vielleicht immer noch ist, aber als Propagandaminister muss man sich zumindest fragen, warum. Aber Goebbels hat sich das nicht nur nicht gefragt, er kam gar nicht auf die Idee, dass man das ändern könnte.
Wie entsteht Kitsch und warum durchleiden wir diesen so häufig?
Kitsch ist ein Erzeugnis, welches entsteht, wenn einer meint, dass eine Bevölkerungsgruppe was empfinden soll (Marketing) und folglich daraufhin handelt. Kitsch entsteht eben genau durch die oben beschriebenen Prozesse, die anfangen mit „intended repsonse“. Wie soll der Betrachter reagieren oder was soll er empfinden?
Wenn man zum Beispiel ein Gedicht schreibt, indem man sich zuerst vornimmt, dass der Leser hinterher erhabene patriotische Gefühle haben soll, dann ist das etwas völlig anderes, als irgend eine Sorte von Heimatliebe zu empfinden, weil man in der Natur spazieren gegangen ist oder sonstiges und dann daraus ein Gedicht zu schreiben. (Es entsteht nicht unbedingt gute Qualität durch die zweite Methode, ich will nur sagen, dass wir in unserer Kultur permanent ‚verleitet‘ werden und das geht so weit, dass sich der Mensch gewissermaßen gar nicht mehr selber versteht.)
Goebbels war nicht in der Lage dieses Problem zu erkennen. Die besseren Künstler, wie Emil Jannings, haben unter ihm gelitten.
W. B. Yeats hingegen, hat dieses Problem sehr gut gesehen, als er sich für die Unabhängigkeit von Irland eingesetzt hat und für die sogenannte irische Renaissance oder „Celtic Twilight“. In seiner lesenswerten Autobiographie schreibt er:
„(…) das Junge Irland hatte eine Nation gesucht, die vereint werden sollte durch eine politische Doktrin, eine unterwürfige Kunst und unterstützende Hilfsschriften.
(…)
Wenn man ein ländliches Liebeslied untersuchte, dann entdeckte man, dass es nicht geschrieben wurde von einem verliebten Mann, sondern von einem Patrioten, der beweisen wollte, dass wir tatsächlich über die feinsinnigste Bauernschaft auf Erden verfügten.“ (WBY, The trembling of the veil, Buch II, Teil II)
Ich will nicht behaupten, dass man ein verliebter Bauer sein muss, um aus der Perspektive eines verliebten Bauern zu schreiben. Das Problem kommt hier vor allem von der Absicht, im Leser den Eindruck zu erwecken, dass Irland die nobelsten oder feinsten Bauern der Welt hat. Das wahre Interesse des Schreibenden ist nicht bei Bauern oder Liebe.
Wie John Keats 1818 schrieb:
„Wir hassen Dichtung, die eine greifbare Absicht mit uns verfolgt – und wenn wir nicht einverstanden sind, ihre Hände in die Hosentaschen zu stecken scheint. Dichtung sollte groß & unaufdringlich sein, ein Ding, das in die menschliche Seele tritt und sie nicht aufgrund ihrer eigenen Erscheinung aufrüttelt oder verblüfft, sondern durch ihr Thema.“
Es ist die Pervertierung (Umkehrung) einer Methode in der Literatur, die der japanische Dichter Katue Kitasono als „Ideoplastie“ bezeichnet hat (beziehungsweise Ideoplastie ist die letzte Phase der Methode) und die ich in seiner Erklärung wiedergebe. (Der Text stammt aus einem Essay, der von Ezra Pound in ‚Guide to Kulchur‘ zitiert wurde:)
„Das interessanteste Thema für uns ist jetzt das Verhältnis zwischen Bildhaftigkeit und Ideoplastie. Zeitgenössische junge Dichter nehmen es mal mehr, mal weniger deutlich wahr und machen sich ernste Gedanken. Manche von ihnen sind wieder hinüber ans äußerste Ende gelangt und zurückgekommen. Andere haben die Suche aufgegeben, entdeckten ein seltsames neues Land und blieben Amateurdenker. Aber jeder, dessen Standboden in der Literatur ist, kann nichts für sie tun, wenn er das System der Literatur ignoriert.
„In ihrer Entstehung nimmt Dichtung wie folgt allmählich Gestalt an:
A. Sprache
B. Bildhaftigkeit
C. Ideoplastie
Das, was wir vage als poetischen Effekt bezeichnen, bedeutet im Allgemeinen Ideoplastie, die aus den Ergebnissen der Bildhaftigkeit erwächst. Der Mensch hat es erdacht, einen herzförmigen Raum aus zwei rechten Winkeln zu schaffen. Diese große Entdeckung in der Plastik, auch die der Kegelformen in der Mathematik, das sind zwei Mysterien, erschaffen durch den menschlichen Intellekt.
„Das Verhältnis zwischen Bildhaftigkeit und Ideoplastie lässt uns den herzförmigen Raum erahnen, der aus der Verbindung der beiden mysteriösen Kurven geboren wurde. Wir standardisierten diese zwei Kurven und erhielten eine Notwendigkeit.
„Was wir zuerst machen müssen für die Bildhaftigkeit, ist (in dieser Reihenfolge) Sammlung, Anordnung und Kombination. So bekommen wir die erste Zeile: „eine Schale, eine Schreibmaschine und Weintrauben“, worin wir ein ästhetisches Gefühl haben. Aber (darin) gibt es keine weitere Entwicklung. Wir fügen die nächste Zeile hinzu und dann wird ein neues ästhetisches Gefühl geboren. Auf diese Weise werden alle Zeilen kombiniert und die Strophe ist beendet. Das meint die Vollendung von Bildhaftigkeit dieser Strophe und dann beginnt die Ideoplastie.
„Dieses Prinzip kann auf Gedichte angewendet werden, die aus mehreren Strophen bestehen. In diesem Fall wird die Ideoplastie geformt, wenn die letzte Strophe fertiggestellt ist.
„Allerdings kann man es nicht als orthodox für Dichtung ansehen, dass Bildhaftigkeit durch Ideoplastie geformt wird.“
(An dieser Stelle empfiehlt Ezra Pound eine Pause zum Nachdenken.)
„Diese Gewalt wird oft von Religiösen, Politikern und Satirikern ausgeübt. Moralische Gedichte, politische Gedichte und satirische Gedichte stützen sich fast ausnahmslos auf ein solch unlogisches Prinzip.
„Die Phänomene in unserem Leben durchdringen unsere Sinne und gelangen in unsere Erfahrungen, Wahrnehmungen und Intuitionen. Es ist die Intuition, die rational die Grundlage für Bildhaftigkeit erschafft und es ist die Methode der Dichtkunst, die Intuitionen wahrnehmbar zu materialisieren und zu kombinieren. Als Konsequenz sind exakte Bildhaftigkeit und Ideoplastie das Resultat einer exakten Methode. Reine und orthodoxe Dichtung kann ohne diese Theorie nicht existieren.“
Katue Kitasono
Übrigens hat sich Kitasono offenbar für Semiotik interessiert, ein Gedicht von ihm heißt „Semiotic Theory“:
Es ist bekannt, dass die Protokolle der Älteren von Zion eine Fälschung ist. Weniger bekannt ist, weshalb viele gebildete und ungebildete Menschen um die Jahrhundertwende daran glauben konnten, dass es sich um einen echten „Leak“ (wie man heute sagt) handeln könnte.
Folgendes ist keineswegs erfunden, jeder kann es frei recherchieren, beispielsweise in einem Buch von H. G. Wells (einem der frühesten Mitglied der Fabian Gesellschaft) mit dem Titel „Die offene Verschwörung – Entwürfe für eine Weltrevolution“. (The Open Conspiracy – Blue Prints for a World Revolution, 1928). 1
Wells schlägt darin die folgenden notwendigen Voraussetzungen für unabhängige Initiativen in der Offenen Verschwörung: (1) Die Anerkennung (praktisch und theoretisch), dass alle existierenden Regierungen nur provisorisch sind; (2) Der Entschluss die Konflikte dieser Regierungen zu minimieren; (3) Die Entschlossenheit privates und ortsgebundenes Eigentum (mindestens im Kreditwesen, Transport und der Produktion) durch eine verantwortungsvolle Weltführung zu ersetzen. (4) Die praktische Anerkennung, dass die Welt biologische Kontrollen benötigt, zum Beispiel im Bereich Bevölkerung und Krankheit; (5) Die Unterstützung eines minimalen Standards von individueller Freiheit und Wohlfahrt in der Welt; und (6) Die über allem stehende Pflicht, das persönliche Leben der Schaffung einer Weltführung unterzuordnen, die zu diesen Aufgaben fähig und der allgemeinen Förderung des menschlichen Wissens und Könnens und der menschlichen Macht willens ist.
Das war bei weitem nicht das erste Mal, dass so ähnliche Grundsätze publiziert wurden.
1. Die Fabian Gesellschaft
Die Fabian Gesellschaft wurde 1884 gegründet und hat sich nach dem römischen General Quintus Fabius Maximus benannt, der berühmt wurde als ‚der Zauderer‘ (Latein: Cunctator), aufgrund von seiner Strategie, seine Angriffe auf die einfallenden Karthager auf den richtigen Moment aufzuschieben. Der Name Fabian Gesellschaft wurde im ersten Fabian Pamphlet erwähnt und enthielt folgende Bemerkung:
„Auf den rechten Moment musst du warten, wie einst Fabius geduldig wartete, als er sich im Krieg mit Hannibal befand, obwohl viele sein Zögern tadelten; aber wenn die Zeit kommt, muss du hart Zuschlagen, wie Fabius es tat, oder all dein Warten wird umsonst und fruchtlos gewesen sein.“
So ist auch ein Emblem der Fabian-Gesellschaft zu erklären, die Schildkröte (ein sich langsam bewegendes Tier mit hartem Panzer), deren Motto ist: When I strike, I strike hard.
Es gibt viele einflussreiche Institutionen, die maßgeblich von der Fabian Gesellschaft beeinflusst wurden, zum Beispiel die Labour Party und manche wurden auch direkt von ihr gegründet, wie die elitäre London School of Economics (LSE). Hervorgegangen ist die London School of Economics 1894 aus einem Übereinkommen diverser Mitglieder der Fabian Society, darunter Beatrice Webb, Sidney Webb, George Bernard Shaw und Graham Wallas. Die Gründung zu diesem Zeitpunkt ging einher mit lebhaft geführten gesellschaftlichen Diskussionen um Klassenunterschiede und neue Wege sozialen Fortschrittes. Diese renommierte, wirtschaftliche Ausbildungsstätte, hat Generationen von englischen und dann auch internationalen Führern im Geiste der Fabiane ausgebildet. Oft wurden sie anschließend Hauptakteure in dem politischen und wirtschaftlichen Leben ihrer Länder. Beispielsweise Präsident John Kennedy; die Königin von Dänemark Margarethe II; Pierre Trudeau (kanadische Premierminister) und sein Sohn Justin Trudeau; der Finanzier George Soros (Gründer der Open Society Institutes); auch Annalena Baerbock (wenn auch nur ein Jahr 2004-2005), u.v.m., besuchten diese Schulbänke.
2. Das Fabian Fenster
Das Fabian Fenster wurde von 1910 George Bernard Shaw in Auftrag gegeben und fand seine Heimat in der London School of Economics (LSE), jedoch wurde es 1978 gestohlen und es tauchte 2005 in Arizona, USA, wieder auf und wurde dann vom Webb Memorial Trust erneut gekauft.
Das Fabian-Fenster wurde am 20. April 2006 von Premierminister Tony Blair in der Shaw-Bibliothek (LSE) enthüllt.
Blair äußerte sich zur Fabian Gesellschaft folgendermaßen:
„Trotz aller offensichtlichen Unterschiede in der Politik, der Einstellung und der Positionierung … wären viele der Werte, für die die Fabians und George Bernard Shaw standen, in der heutigen Labour-Partei sehr gut erkennbar, zumindest hoffe ich das. Eines der Dinge, die sie meiner Meinung nach am besten beherrschten, war die Tatsache, dass sie das traditionelle Denken, das unser Land beherrschte, völlig ikonoklastisch hinterfragten, und zwar immer dann, wenn ein Stück konventioneller Weisheit herauskam, stellten sie diese konventionelle Weisheit in ihren Grundzügen in Frage, und das mit bemerkenswertem Erfolg.“
Caroline Charlotte Townshend entwarf im Auftrag von George Bernard Shaw das „Fabian Fenster“
Das Fabian-Fenster, auch genannt das Shaw-Fenster, befindet sich in der Shaw Bibliothek in der London School of Economics (LSE)
Zunächst ist mittig im Fenster zu sehen, wie auf eine „heiße Erdkugel“ mit Hammern eingeschlagen wird, wie um sie zu schmieden. Darüber ist das Banner zu lesen:
„REMOULD IT NEARER TO THE HEART’S DESIRE“
Das ist eine Zeile aus Omar Chayyām und bedeutet wörtlich: „Forme es gemäß deinem Herzenswunsche um.“
Aus Rubayiat 1, XXIV:
„Könnt ich walten wie Gott im Himmelzelt Ich hätt’es schön längst auf den Kopf gestellt, Um ein anderes zu bauen, wie ich es verstehe, Welches ganz nach den Wünschen der Menschen sich drehe.“
Links daneben ist zu lesen:
„Pray devoutly – Hammer stoutly“ (Bete fromm und hammere kräftig)
Über der roten Weltkugel findet man noch ein Emblem der Fabian Gesellschaft, den „Wolf im Schafspelz“.
Die Wendung „Wolf im Schafspelz“ stammt aus einer Predigt Jesu im Neuen Testament: Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. (Mt 7,15 ELB). Deren wahre Natur werde durch ihre Taten offenbar (An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, Vers 16).
Unten sieht man, wie zehn Menschen einen Stapel Bücher in ihrer Mitte anbeten, rechts fünf Frauen, links fünf Männer, ganz links außen H. G. Wells, der allen anderen eine lange Nase zeigt.
Einige dieser heiligen Bücher sind:
Plays Pleasant / Unpleasant von George Bernard Shaw (abgekürzt GBS)
Plays for Puritans von GBS
Man and Superman von GBS
History of Trade Unionism von Sidney und Beatrice Webb
Minority report (Poor Law) entstanden in Zusammenarbeit mit S. Und B. Webb 2
Das Besondere an dem Siegeszug der Fabianer, die sich auch sonst überall platziert haben, wo der Ton angegeben wurde, war, dass sie auch einen literarischen Krieg geführt haben.
Die wichtigsten „Literatur-Soldaten“ waren in ihren ersten Generationen:
George Bernard Shaw (1856-1950) – Nobelpreis für Literatur 1925
H. G. Wells (1866-1946)
Aldous Huxley (1894-1963)
George Orwell (1903-1950) – Aldous Huxley war Orwells Französischlehrer in Eton – und 4
Briefwechsel George Orwell – Fabian Gesellschaft, wo Orwell Vorträge gehalten hat
Aktueller Screenshot der Fabian Gesellschaft
Das, was ich als „Literatur-Soldatentum“ beschreibe, kann man als eine Form des Kulturmarxismus sehen (die Tochter von Karl Marx, Eleanor Marx, war übrigens Fabianerin). Diese Autoren machten literarische Genres beliebt, wie Sciencefiction und Anti-Utopien.
Sie schlugen ein in eine englische Gesellschaft, die auf die Änderungen nicht vorbereitet war.
Hier ein kleines Stimmungsbild jener Zeit der Ümbrüche durch einen Autoren, der nicht auf der Fabian-Linie war: Den Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts in England beschrieb der amerikanische Dichter Ezra Pound so:
„Zu Dokumentationszwecken und für den Fall, dass dieses Buch die nächsten fünfzig Jahre bestehen bleibt, möchte ich Folgendes festhalten: nämlich, dass Männer meiner Generation den Bauchplatscher oder Zusammenbruch einer Reihe von König- und Kaiserreichen miterlebt haben, alle waren sie verdorben und kein einziges verdient Mitleid oder zwei Wörter des Bedauerns. Unter den Fäulnissen ist es schwierig, eine gerechte Einschätzung abzugeben.
Die Großfürsten stanken nicht schlimmer als Basel, die Banque de France oder andere Politproduzenten. Sie verkauften ihre Länder. Sie hatten keine moralische Größe.
Jedoch bereicherte ihr Untergang für einige Jahre die Bohème oder la vie humaine des littérateurs durch ihre Zersplitterung in Fragmente.
Nachdem es die Formen des XIX. Jahrhundert zerschossen hat, blieb eine Art Oberfläche liegen. Intakt war einzig noch eine Sorte von riesigem Pappfloß auf einem Wasserfall von abgestandener Plörre. Man hätte meinen können, man wäre in einem Raum von Madame Tussauds.
Ich schieße hier nicht aufs Geratewohl auf irgendwas mir persönlich Verhasstes. Ich stelle den Kontrast heraus zwischen der feinen Blume einer Zivilisation und einer Sorte von verdorbener Korruption.
Die Bewohner waren beruhigt, aber nicht bei Bewusstsein, wie Halberstickte, die aber noch lächelten, sagen wir mal, mit einem Hauch von Steifheit.
Männer meiner Zeit haben „Partys“ in Londoner Gärten gesehen, wo alle anderen (Männer), wenn ich mich recht entsinne, graue Zylinder trugen. Mir scheint, dass sogar Henry James einen anhatte, und – es sei denn mein Gedächtnis vermengt hier zwei verschiedene Anlässe – eine riesige karierte Weste. Man hat zeremoniellen Abendessen auf Flaggschiffen beigewohnt, wo der Ober von „claret“ sprach, wenn er Bordeaux meinte, und wo Bath-Oliver-Cracker mit Käse auftauchten. (Stilton? Ich glaube, es war Stilton.)
Solche Aktivitäten kann man aber noch als natürliche Erscheinungen bezeichnen, um sie abzugrenzen von zahlreicheren „Bemühtheiten“, womit ich gesellige Anlässe meine, die Anstrengung und ungewöhnlichen Aufwand zu verdecken schienen.“
Ezra Pound, Guide to Kuchur, 1938
Man sagt auch, dass sich Allen Upward umgebracht hat, weil Shaw 1925 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Das ist nicht die ganze Wahrheit, sicherlich, aber ganz unwahr ist es auch nicht.
Im Jahr 1915 schrieb er ein Theaterstück mit dem Titel ‚DAS GEFUNDENE PARADIES‘, das eine satirische Anti-Utopie über das Jahr 2115 ist, wenn die Nachkommen der Fabian-Gesellschaft endlich ihr Paradies auf Erden errichtet haben, wie George Bernard Shaw es entworfen hatte in seinen vielen Schriften und Reden.
Er selbst liegt in einem verzauberten Schlaf auf einem Fauteuil und wird von den Fabianern verehrt als der heilige Georg (der Drachentöter, wobei der Drache das Symbol für den Kapitalismus sein soll). Versehentlich wird er von einer jungen Fabianerin (Lady Wells) wachgeküsst und fängt an sich in ’seiner Welt‘ umzusehen, wo die Arbeiter (‚Kameraden‘) sich gegenseitig auf der Straße erschießen und alle ein eisernes Halsband haben mit einer eingravierten Nummer, wo es keine Polizei mehr gibt, sondern nur Krankenwagen, wo aber Ärzte mit hochgiftigem Desinfektionsmittel herumfahren und ‚Kranke‘ einsammeln, die nach der Behandlung meistens nie wieder gesehen werden. Schülerinnen und Schüler kann man dem Geschlecht nach nur unterscheiden, da die Jungen eine Armbinde tragen.
Man kann sehr gut sehen, dass die Gesundheitsdiktatur und die ‚Genderei‘ nicht unvorbereitet kommen.
4. Überbevölkerung und Thomas Malthus
Hier zeigt Bill Gates eine liebevoll handgemachte Grafik, die uns das Problem der Überbevölkerung verdeutlichen soll:
Seltsamerweise hat der Entdecker der Überbevölkerungstheorie schon im frühen 19. Jahrhundert die Explosion der Bevölkerung und das gleichzeitig viel geringer Wachstum von Lebensmittelproduktion erkannt, obwohl Bills Grafik dies nicht so anschaulich hergibt. Bei Bill sieht das Bevölkerungswachstum bis 1850 noch sehr linear aus:
Thomas Robert Malthus (* Februar 1766 in Wotton bei Dorking, in der englischen Grafschaft Surrey; † 29. Dezember 1834 in Bath) war ein anglikanischer Pfarrer und britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird. Malthus war der erste Professor für politische Ökonomie in England.
Im Jahr 1798 stellte er ein mathematisches Modell des Bevölkerungswachstums auf. Obwohl sein Modell einfach ist, wurde es zur Grundlage für die meisten zukünftigen Modelle biologischer Populationen. Sein Aufsatz „An Essay on the Principle of Population“ stellte er fest, dass sich die menschliche Bevölkerung (wenn sie nicht von ökologischen oder sozialen Zwängen eingedämmt wird) alle fünfundzwanzig Jahre verdoppelt, unabhängig von der ursprünglichen Bevölkerungsgröße. Mit anderen Worten: Er stellte die These auf, dass die Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum um einen festen Prozentsatz zunimmt und dass dieser Prozentsatz in Ermangelung von Zwängen nicht von der Größe der Bevölkerung abhängt.
Vor Malthus hat man gedacht, dass eine wachsende Bevölkerung eine größere Produktivität eines Landes hervorbringen könnte. Malthus widersprach dieser Ansicht vehement. Er stellte die These auf, dass die Bevölkerungszahl exponentiell wachse, die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear.
Malthus hatte folgende Vorschläge zur Eindämmung der Überbevölkerung.
1. Sozusagen die ‚proaktive Eindämmung‘ durch Steigerung der Todesraten (man könnte auch sagen Entvölkerung durch Hunger, Krankheit und Krieg) und 2. ‚Präventive Eindämmung‘ durch Verringerung der Geburtenzahlen (etwa durch Abtreibung, Verhütung, keine oder sehr späte Heirat, Zölibat).
Deswegen war Malthus auch gegen die ursprüngliche „Poor Law“ 5, also Gesetze, die dazu dienten, die arme Bevölkerung von England zu unterstützen, denn das einzige Mittel gegen die große Menge an Armen war noch mehr Armut, damit gerade diese Menschen endlich einsehen, dass sich das Leben nicht lohnt.
Daraufhin reformierte England diese Gesetze und änderte das Management der „Workhouses“, wo Arbeiter wohnen und arbeiten durften, streng nach Geschlechtern getrennt, um primitive amouröse Instinkte und auch allgemeine Lebenslust bei ihnen zu minimieren.
Charles Darwin war so von Malthus inspiriert, dass man durchaus vermuten kann, dass Darwin selber der erste Sozialdarwinst war. Galton und die Eugeniker waren von Malthus und Darwin inspiriert.
Eugenik wird seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs tabuisiert und den Nazis in die Schuhe geschoben. Tatsächlich haben sie nur fortgeführt, was in England 130 Jahre vorher (gerade von einem Priester) ersonnen wurde und die ganze Zeit über als vollkommen salonfähig galt.
Aufgrund von historischen Verstrickungen, aber auch weil Malthus Theorie, dass die Bevölkerung exponentiell wachsen ‚muss‘, während die Produktion nicht anders als linear wachsen ‚kann‘, einfach an den Haaren herbei gezogen ist, hat man seine Theorie modernisiert und mehr Betonung auf Umweltschutz (der Mensch bedroht die Umwelt ja schon, indem er atmet) und Epidemien gelegt.
Ich habe neulich gehört, dass in fernen Ländern wie Kolumbien, Kinder nicht mehr in die Schule gelassen werden ohne Impfung, aber zugleich ein Gesetz erlassen wurde, dass Abtreibungen bis zur 24. Woche der Schwangerschaft legal sind, das sind 168 Tage von 273,75 Tage (9 Monate). Skeptische Menschen in diesem Land bewerten ersteren Umstand als Beleg für die proaktive und zweiteren für die präventive Eindämmung der dortigen Bevölkerungszahlen ganz analog zu Malthus Empfehlungen.
5. George Bernard Shaw
GBS der Drachentöter
Ich bin immer wieder aufs Neue frappiert von Shaws Naturtalent, arbeitende Menschen zu verachten. Wenn Shaw diesbezüglich in Fahrt ist, denkt mal als Leser wirklich, dass das nur einer schreiben konnte, der noch nie in seinem Leben arbeiten musste. Dabei war Shaw eigentlich Büroangestellter, bevor er sich „in die Literatur gerettet“ hat, wie er selbst es einmal formulierte.
Bei Virginia Woolf ist das etwas anderes – wenn Sie ihre lyrische Prosa für besonders Sensible und Intelligente geschrieben hat und dann auf einem Spaziergang eine lange Schlange von Arbeitslosen sah und daraufhin in ihr Tagebuch schrieb, Arbeitslose wären so hässlich, sie verdienten es garantiert nicht, zu leben, dann sagte sie das in Unschuld, man kann nur vermuten, dass sie keinen Spiegel hatte. Vermutlich hat ihr dann jemand einen Spiegel geschenkt, als sie im reiferen Alter war und dies erklärt dann ihren Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Doch obwohl Virginia Woolf offenbar auch nicht aristokratisch in einem adeligen Sinne war, sondern nur in einem geistigen, verwundert Shaws angelernter Adel, da er fast zu perfekt ist, um von einem ehemaligen Angestellten zu kommen. Ich zitiere aus dem Kapitel „Löhne“ aus Fabian Essays in Socialism, GBS:
„Es ist die selbe Kraft, die weiterhin dafür sorgt, dass sich die Menschen vermehren, bis ihr Tauschwert langsam und sicher fällt, bis er ganz verschwindet – bis selbst schwarze Leibeigene frei gelassen werden, da sie es nicht wert sind, erhalten zu werden in einem Land, wo Menschen aller Farben für nichts zu bekommen sind. Das ist der Zustand unserer englischen Arbeiter heute: Sie sind nicht mal mehr spottbillig: sie sind wertlos und man kann sie für gar nichts haben. Der Beweis sind die Arbeitslosen, die noch nicht einmal mehr Käufer mehr finden können. Nach dem Gesetz der Indifferenz wird niemand Menschen zu einem Preis kaufen, wenn er ebenso dienstbare Menschen für nichts erhalten kann.“
Löhne, Fabian Essays in Socialism, GBS
Überbevölkerung
„Die Einführung des kapitalistischen Systems ist ein Zeichen, dass die Ausbeutung des Arbeiters, der sich für das nackte Überleben abplagt, die wichtigste Lebenskunst der Inhaber der Mieterrechte geworden ist. Es erzeugt auch das trügerische Versprechen eines endlosen Angestelltenverhältnisses, welches das Proletariat bezüglich der grauenhaften Konsequenzen schneller Vermehrung verblendet, die dem kleinen Landwirten oder Bauern mit Eigentum durchaus bekannt sind. Aber tatsächlich, je mehr man die Arbeiter degradiert und ihnen jedes künstlerische Vergnügen nimmt und jede Möglichkeit auf Respekt oder Bewunderung durch ihre Genossen, um so mehr werden sie zurück geworfen auf das letzte menschliche Band, das ihnen noch übrig geblieben ist, die Befriedigung ihres Instinktes der Produktion von frischem Menschenangebot. Ihr werdet diesen Instinkt als göttlich beklatschen bis er zur Belästigung wird: es komme eine Plage von Menschen; und plötzlich erkennst du, dass der Instinkt diabolisch ist und du beginnst zu rufen „Überbevölkerung“. Aber deinen Sklaven sind deine Rufe egal: Sie vermehren sich wie Kaninchen; ihre Armut erzeugt Schmutz, Hässlichkeit, Unehrlichkeit, Krankheit, Obszönität, Trunkenheit und Mord. Inmitten der Reichtümer, die ihre Arbeit für dich auftürmt, steigt ihr Elend ebenfalls auf und erstickt dich. Du ziehst dich ekelerfüllt in die andere Ecke der Stadt vor ihnen zurück; du reservierst für sie besondere Waggons in deinen Zügen und besondere Sitzplätze in deinen Kirchen und Theatern; du trennst dein Leben von ihrem durch jede Klassenschranke, die dir ausdenken kannst. Dein Gesicht erhält den Stempel deiner Verachtung für sie und deines Misstrauens. Deine Ohren werden so angefüllt mit den niedrigsten ihrer Sprechweisen, dass sie aus dir herausplatzen, wenn du die Selbstkontrolle verlierst. Gnadenlos vergiften sie dein Leben, so wie du ihr Leben herzlos geopfert hast. Du fängst an, lebhaft an den Teufel zu glauben. Dann kommt die Angst, dass sie revoltieren könnten; (…) Und während dessen wächst die Bevölkerung weiter.“ (Fabian Essays in Socialism, GBS)
Viele konnten GBS nicht einschätzen, sie wussten nicht, ob er ein Zyniker war oder ein Spaßvogel oder ein Idealist oder ob es bitter ernst meinte oder vielleicht nicht verstanden hat, was Aussagen wie folgende, zur Folge haben würden:
„Sie alle müssen mindestens ein halbes Dutzend Leute kennen, die in der Welt keinen Nutzen haben; die mehr Aufwand sind als sie Wert haben. Diesen sage man einfach, also, mein Herr oder meine Dame, seien Sie bitte so freundlich, Ihr Dasein zu rechtfertigen. Wenn Sie Ihr Dasein nicht rechtfertigen können, dann tun Sie nicht das Ihrige im sozialen Boot. Wenn Sie nicht ebenso viel (oder vielleicht etwas mehr) produzieren wie Sie konsumieren, dann ist es klar, dass wir die große Organisation unserer Gesellschaft nicht dafür verwenden können, Sie am Leben zu erhalten, da Ihr Leben uns keinen Nutzen bringt und auch Ihnen selbst nicht viel Wert sein kann.“ – GBS
Diese Aussagen wurden ca. 1931 auf Film aufgenommen:
„Die Vorstellung, dass Menschen vor der Todesstrafe sicher sein sollen, solange sie nicht absichtlich Mord begehen oder einen Krieg gegen die Krone beginnen oder entführen oder Vitriol werfen, bedeutet nicht nur, die soziale Verantwortung unnötig einzuschränken und sehr viele unerträgliche Verhaltensweisen, die außerhalb davon liegen, zu bevorzugen, sondern auch um die Aufmerksamkeit von der wahren Berechtigung der Todesstrafe abzulenken, nämlich immer unkorrigierbare soziale Inkompatibilität und nichts anderes.“
– George Bernard Shaw, “On the Rocks” (1933)
Weiterhin ist es interessant, dass GBS 1934 wie prophetisch von der Einsetzung von Gas als Todesstrafe gesprochen hat:
„Ich appelliere an die Chemiker ein menschliches Gas zu entdecken, dass sofortig und schmerzlos umbringen wird, tödlich auf jeden Fall, aber menschlich, nicht grausam.“
– George Bernard Shaw, The Listener Feb 7, 1934
Verwendung von Gaskammern:
„Wir sollten uns dazu verschreiben eine große Menge an Menschen umzubringen, die wir derzeit leben lassen und dafür viele Menschen leben zu lassen, die wir momentan umbringen. Wir müssen alle Ideen über die Todesstrafe loswerden…
Als Teil der eugenischen Politik würden wir schließlich dazu kommen, Gaskammern sehr häufig zu verwenden. Sehr viele Leute müssten nämlich verscheiden, da es ganz einfach die Zeit anderer Menschen verschwendet, sich um sie zu kümmern.“
– George Bernard Shaw, Vortrag in der Eugenics Education Society, berichtet im The Daily Express, 4. März 1910
“Sobald wir der Sache ins Angesicht blicken, kommen wir nicht um folgendem Schluss herum. Die Gesellschaft hat ein Recht, dem Recht auf Leben einen Preis zu geben… Wenn Menschen für das Leben fit genug sind, dann sollen sie unter anständigen Bedingungen leben. Sind sie nicht zum fit für das Leben, dann sollte man sie auf anständige Weise umbringen… Ist es denn ein Wunder, dass sich manche von uns genötigt sehen, Gaskammern als einzige Lösung zu sehen für all die Härtefälle, die gegenwärtig zur Ausrede werden, um alle anderen Fälle zu sich herunter zu ziehen und als einzige Möglichkeit einen Sinn für gesellschaftliche Verantwortung in modernen Bevölkerungen zu erzeugen?“
– George Bernard Shaw, Einleitungen (London: Constable and Co., 1934), p. 296
„Im Sozialismus, dürftest du nicht arm sein. Man würde dich zwangsernähren, anziehen, eine Wohnung geben, unterrichten und anstellen, ob es dir nun passt oder nicht. Würde man nun entdecken, dass du nicht den Charakter und den Fleiß hast, um diese ganze Mühe wert zu sein, dann würde man dich vermutlich auf die freundliche Art exekutieren; aber wenn man es dir erlaubt zu lebe, dann musst du gut leben.“
– George Bernard Shaw: The Intelligent Woman’s Guide to Socialism and Capitalism, 1928, pg. 470)
6. H. G. Wells
H. G. Wells, 1920
„Er hält sich tatsächlich für einen Soziologie-Wissenschaftler, weil er die London University Prüfungen in Chemie und Biologie bestanden hat (und nicht gerade mit Auszeichnung)! Er entwickelte dann ein wahrhaftes Genie für pseudowissenschaftliches Geschichten-Erzählen. Er macht sich irgend eine Hypothese oder neue Erfindung zu eigen und zwirbelt sie herum zu einer Geschichte über die Männer und die Frauen, die in das Experiment verwickelt sind – ob es nun ein Flug durch die Luft ist oder der chirurgische Eingriff in das Gehirn von Tieren oder Menschen. Aber leider hat sich Wells nicht damit begnügt ein köstlicher Romanschriftsteller zu sein – ein erhabenerer Jules Verne – er hat sich selbst für einen großen Denker gehalten – als Formgeber der zukünftigen Welt – im Allgemeinen und im Besonderen des Weltstaates, der einen Großteil der Menschheit erretten soll. Aber so ein grandioses Ziel macht Wissen über die gesellschaftlichen Institutionen nötig- und darin hat H. G. Wells ebenso bescheidene Kenntnisse wie ich über die Mysterien der Mathematik. So reist H. G. Nach Washington und isst zu Abend mit den Roosevelts und sie hören ihn mit höflicher Selbstzufriedenheit an, wie er über seine offene Verschwörung spricht und beenden den Abend mit einem ermutigenden „Warum nicht?“. Dann fliegt er nach Moskau und drängt sich Stalin auf, der ihn kritisch beäugt wie einen feindlichen Journalisten.“
– Beatrice Webb, Tagebücher, Okt. 1934
Ford Madox Ford, 1936:
„Ich glaube, Herr H. G. Wells und ich sind jetzt mehr Jahre verfeindet, als ich mir gerne bewusst mache. Die Situation wird umso pikanter, da inzwischen der eine oder der andere von uns der Doyen der englischen Romanciers geworden sein muss, obwohl ich lieber nicht entdecken möchte, welcher. Im Reich der Schriftkunst, jedenfalls, waren Herr Wells und ich fast dieses ganze Jahrhundert Anführer gegnerischer Streitkräfte.
Ich finde es nicht unbescheiden, wenn ein Mann behauptet, er ist der Anführer von Kräften, wenn seine Militäreinheit tatsächlich eine Einheit ist. Damit will ich sagen, dass man sagen darf, dass man der Anführer seiner selbst ist… Denn es ist nun einige Jahre her, dass ich einen Kampfgenossen hatte, so vollständig war der Triumph von Herrn Wells Kräften. Aber es gab gute alte Zeiten, als die Kräfte noch ähnlich stark waren. Damals war ich nur ein Mitglied eines Lagers. Wir waren der Ansicht, dass die Welt nur gerettet werden konnte, durch die Künste. Mr. Wells und seine Anhänger verkündeten, dies könne nur durch die Wissenschaft bewerkstelligt werden. (…)“
„Mr Wells war in diesen frühesten Tagen der phantasierende Wissenschaftler – nach seiner Ansicht Wissenschaftler, aber Phantast in unseren Augen. In diesen Tagen zerbrach sich keiner den Kopf über die Wissenschaft. Es schien ein angenehmes Hobby, wie Briefmarken sammeln. Und ich muss wirklich sagen, so betrachte ich es immer noch. Man brauchte die Wissenschaft damals nicht und man wird sie in der nicht so fernen Zukunft noch weniger brauchen, wenn sie einmal vom Thron gestürzt wird.“
Fiktion besteht darin, dass man glaubt, dass das Beschriebene erfunden ist, Fakten bestehen darin, dass man sie für wirklich hält. Beidem gemeinsam ist, dass man das eine oder das andere glaubt. Selbst, wenn sich jemand vornimmt, vollkommen ehrlich zu sein, ist es fraglich, ob er die Zusammenhänge, Ursache und Folge und so weiter begriffen hat. Oder wenn jemand vorsätzlich lügt, dann kann es passieren, dass er es beispielsweise durch den Blick seiner Augen verrät. Oder er belügt jemanden, der mehr weiß als er selbst und ist hierdurch erfolglos. Viele denken, es gäbe einen „rein intellektuellen“ Inhalt von Aussagen, den man („in vitro“) prüfen könne, ohne die Absichten des Sprechenden mit einzubeziehen.
Dieser Irrglaube ist an Universitäten sehr verbreitet, denn viele leugnen, dass bezahlte Lehrstühle zu bezahlten Lehrmeinungen führen.
Warum sollte jemand dafür zahlen, dass ein Anderer Meinungen verbreitet? Die öffentliche Meinung zum Beispiel ist eigentlich eine Fiktion und sie wird nur dadurch aufrechterhalten, dass so viele sie für echt halten und glauben, dass an jeder Straßenecke das Gespräch stattfindet, das im Fernsehen simuliert wird. Gebildetere Menschen hingegen vermuten, dass beim Abendessen andere Gebildete das sprechen, was angeblich zwischen Philosophen besprochen wird.
Wenn in den Zeitungen steht, dass die aktuelle Wirtschaftlage zur Inflation führen muss und dass der einzige Rettungsanker im Kauf von Gold besteht, dann werden das wieder viele glauben und gar nicht vermuten, dass der Grund für die ganze Inflationspropaganda darin liegt, dass die eigentlichen Akteure am Markt, die mehr Gold haben als sich Herr Huber überhaupt vorstellen kann, eigentlich verkaufen wollen und dies zu einem möglichst hohen Preis. Wenn diese Akteure dann verkauft haben, wird sich der Preis freilich wieder „stabilisieren“ und die „Goldblase“ platzt. Und wieder werfen alle die Hände über den Kopf und sagen, dass diese Spekulationsexzesse ihr natürliches Ende gefunden haben!
Wahre Spiegel- oder Süddeutscheleser würden ihre Hand ins Feuer legen für das, was dort publiziert wird und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie sich den Bildlesern so überlegen fühlen. Und ich glaube, dass eine sehr große Menge an Sprachphilosophen, Semiotikern und Schriftsetzern (unter anderem) daran beteiligt waren, dieses System aufzubauen.
Das mag verwirrend klingen, weil es verwirrend ist. Die eine Frage, die hilft, aus dem Labyrinth zu entkommen (zumindest zeitweise) ist: für wen wurde das Buch (oder der Zeitungsartikel, das Gedicht etc.) geschrieben und warum. Zwar klingt diese Fragestellung ähnlich wie das Thema in der Schule „Was ist die Intention des Autors?“ aber sie könnte gar nicht verschiedener sein. Denn es gibt zumeist eine vorgegaukelte Intention, hinter die man erst blicken muss.
Hinzu kommt allerdings noch, dass das Unterbewusstsein nicht unterscheiden kann zwischen Fiktion und Fakt. Stimmungsbetonte Ideen sickern in diesen Teil des Bewusstseins ungefiltert ein und können sogar gesundheitsgefährdenden Schaden anrichten. Eigentlich ist das klar, wenn man bedenkt, dass der Tagesverstand nicht zuständig ist für den Atemrhythmus oder Hormonausschüttungen. Mir scheint, dass Charles Baudelaire sehr Ähnliches thematisiert im Einleitungsgedicht zu seinen Blumen des Bösen „An den Leser“ (gut, was er NOCH damit sagen wollte, bleibt vielleicht sein Geheimnis).
Das sind die zahlreichen Schleier der Isis, könnte man sagen.
Aus: Blumen des Bösen
An den Leser
Von Charles Baudelaire
In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer Versinken wir mit Seele und mit Leib, Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib, Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.
Halb sind die Sünden, matt ist unsre Reue, Und unsre Beichte macht sich fett bezahlt, Nach ein paar Tränen rein die Seele strahlt Und wandert froh den schmutzigen Pfad aufs neue.
Satan, der Dreimalgrosse, übt die Künste, Auf seinem Kissen wiegt er unsern Geist, Bis das Metall, das Kraft und Wille heisst, Vom Zaubrer aufgelöst in fahle Dünste.
Des Teufels Fäden sind’s, die uns bewegen, Wir lieben Graun, berauschen uns im Sumpf, Und Tag für Tag zerrt willenlos und stumpf Der Böse uns der Hölle Stank entgegen.
Wie an der Brust gealterter Mätressen Der arme Wüstling stillt die tolle Gier, So haschen nach geheimen Lüsten wir, Um sie wie dürre Früchte auszupressen.
Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen Die Teufelsschar, die uns zerstören muss, Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss, Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.
Wenn Notzucht, Gift und Dolch und alles Böse Noch nicht geschmückt mit holder Stickerei Des Schicksals Grund voll fadem Einerlei, Dann ist’s, weil unsre Seele ohne Grösse.
Doch zwischen Panthern, Schakalen und Hunden, In der Skorpionen, Schlangen, Affen Welt, Die kriecht und schleicht und heult und kläfft und bellt, Im Tierhaus unsrer Laster ward gefunden.
Das schlimmste, schmutzigste von allen Dingen, Die Qual, die nicht Gebärde hat noch Schrei, Und doch die Erde macht zur Wüstenei Und gähnend wird dereinst die Welt verschlingen:
Der Überdruss! – Tränen im Blick, dem bleichen, Träumt vom Schafott er bei der Pfeife Rauch. Du, Leser, kennst das holde Untier auch, Heuchelnder Leser – Bruder –: meinesgleichen!
(in der Übersetzung von Therese Robinson, 15. November 1873 in Darmstadt; gestorben am 17. Februar 1945 in Malmö)
Warum mittelalterliche Scholastik so aktuell ist wie noch nie, Teil 1
Als Kind kann man noch nicht so eindeutig unterscheiden zwischen dem Beseelten und dem Unbeseelten. Jeder hat es schon einmal gesehen, wie sich ein Kind an einem Tisch anstößt und ruft „Blöder Tisch!“ und diesen dann schlägt. Und obwohl das Kind selbst seinen Puppen eine Stimme verleiht, weiß es nicht so ganz genau, ob sie eigentlich leben oder nicht. Und wenn es sich einbildet, dass unter seinem Bett ein Ungeheuer sei (eine Idee, die es nur nachts bekommt, das ist vollkommen unlogisch), dann kann es Todesangst verspüren wegen nichts.
Außerdem weiß das Kind zum Teil nicht mal, was es glaubt, weil es noch nie darüber nachgedacht hat. Zu merken, was man glaubt, ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Bewusstseins.
Aber mit ungefähr achtzehn Jahren (oder vielleicht, sobald er wahlberechtigt wird), macht der Mensch einen unglaublichen Bewusstseinssprung.
Er verändert seinen Gesichtsausdruck und ist erwachsen.
Im Vergleich mit diesen verwirrten Kindern kann er nun einwandfrei unterscheiden zwischen:
Lebendigem (früher sagte man Beseeltem, aber das ist nicht wissenschaftlich: Menschen, Tiere, ggf. Pflanzen, das ist nicht so ganz klar, die Biologie weiß es noch nicht),
Toten Gegenständen, z.B. Tisch und
Konzepten. Besonders dieses Dritte scheint ihn so unglaublich erwachsen zu machen, so ernst und nobel. Hier ist der Geist, die Vernunft, der Verstand, die Solidarität usw.
Das frühere Leben der Dummheit aus einer Kindheit scheint wie weggeblasen. Oft bekommt der Mensch dann, wenn er mit Kindern spricht, einen Tonfall als wären sie etwas geistesbehindert und so recht eigentlich gar nicht die Zeitverwendung wert.
Er fängt an, vollkommen absurde Gedankengänge für erhabene Prozesse der Logik zu halten, zum Beispiel:
„Ich denke, also bin ich.“
Das ist nur Scheinlogik, denn das Sein spürt man immer, außer vielleicht im Koma, aber dann ist man zu gar keiner Aussage fähig.
Oder die berühmte Schlussfolgerung aus:
„Alle Menschen sind sterblich“ und „Sokrates ist ein Mensch“ => „Sokrates ist sterblich“
Sokrates ist nicht nur sterblich, er ist sogar tot! Und das weiß jeder, der von Sokrates schon einmal gehört hat, ergo ist das keine Schlussfolgerung. Wenn schon ist es eher umgekehrt: Da bisher alle Menschen irgendwann gestorben sind, zum Beispiel Sokrates, Platon…, wissen wir, dass Menschen insgesamt sterblich sind (Argument per Induktion, statt per Deduktion).
Der Mensch kommt dann auf die Universität und liest Kant. Er findet ihn genial und versteht, dass man Deutschland als das Land der Dichter und Denker bezeichnet, Menschenarten, zu denen er sich jetzt auch zählt.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
(Nebenbemerkung, dieses ‚durch‘ erscheint mir weder logisch noch grammatikalisch richtig.)
Maximen sind mehr oder weniger Kalendersprüche. Kant beweist nirgends, dass ein Handeln nach Kalendersprüchen sinnvoll ist oder das Handeln auf Dauer verbessert. Und dann fordert er auch noch, dass man nur nach dem besten aller Kalendersprüche handeln soll, einen der so gut ist, dass man folglich jeden Menschen zwingen kann und muss, nach diesem zu handeln. Deswegen nennt man diesen ‚der kategorische Imperativ‘.
Das Wort Vernunft ist so schön und rührend, das Wort Kritik ist so maskulin und streitbar, gibt man noch die Reinheit dazu, dann ergibt sich „Die Kritik der reinen Vernunft“. Wahnsinn! Das ist erhaben hoch drei!
„Ich nenne alle subjektiven Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft, in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis des Objekts, hergenommen sind, Maximen der Vernunft.“ (- Kant)
Was bedeutet dies? Ich übersetze:
„Ich nenne alle Sprüche, die aus der Wahrnehmung einer einzelnen Person kommen, die nicht mit dem Thema zu tun haben, worum es dem Schein nach geht, sondern mit einem Bild zu tun haben, das die Person von sich hat, ein Bild, das immer mehr aussieht, wie jemand, der weiß, wovon er spricht: Maximen der Vernunft.“
Als Skuptur würde ich mir diese ungefähr so vorstellen:
Ein wirklich konsequenter Moralist löst sich in Unmoral auf, das ist nicht anders möglich. Das erinnert mich an Andrej Platonow, der so ein überzeugter Sozialist war, dass die Sozialisten seine Bücher verbieten mussten, um den kommenden Kommunismus nicht zu gefährden.
Heilt Hitler
Das Wunder von Stalingrad
Der Film beginnt dunkel und nur das wenige Schimmern der roten Fahne mit dem Hakenkreuz überzeugt davon, dass der Film nicht Schwarz-Weiß ist. Zwei Kameraden, Krücke (Herbert) und Frontenbold (Gunther) erwarten den unausweichlichen Tod in Stalingrad. Sie haben sich in einem Gebäude verrammelt und Herbert rührt Gips an, während der Frontenbold einen Brief an seinen Führer schreibt, dabei trinkt er die restlichen Tropfen Alkohol, die ihm noch bleiben. Sie leiden große Angst und Herbert frisst Gips und gipst sich von Kopf bis Fuß ein, weil er den nahenden Tod nicht ertragen kann. Frontenbold ist ein Trunkenbold und Witzbold an der vordersten Grenze zum Heldentod.
„Ich stehe ja eh mehr auf das, was die Kehle befriedigt, sei es Gelächter oder Schnaps.“ Er räsoniert: „Wenn der Krieg vorbei ist, bin ich wieder ganz schön allein. Ist ganz hübsch ein Unterschied, ob die Kameraden lachen oder ob eine anonyme Masse lacht, wenn du besoffen aus der Trambahn fällst.“ Plötzlich will Gunther nicht in russischer Erde liegen, er will unter einer deutschen Autobahn begraben sein, weil er das Sausen der deutschen Autos so liebt. Er macht das Sausen nach aber es klingt bedrohlich, sein Gesicht ist ganz wahnsinnig und die Autos scheinen unter seinen Gesten zu explodieren. Herbert denkt an seine Bräute, er denkt, wie sie ihn betrogen haben. Der Frontenbold liest dessen Briefe an die fünf Frauen vor.
Mit den Worten „Meine über alles geliebte Anytta“ wechselt sie Szene und man sieht das hoffnungsvolle Gesicht einer jungen Frau, die an einem blühenden Baum steht. Die Musik klingt asiatisch und Herbert erklärt, dass es sich um einen Kirschbaum handelt aber dann zweifelt er: war es vielleicht doch ein Birnbaum unter welchem die Buschwindröschen blühten und die lachsrote Unterhose der Anytta gelegen hat?
Herbert hat sich inzwischen völlig eingegipst. Herein stürmt ein russischer Soldat und versucht, ihn zu erschießen, doch das Gips hält stand und als ein Deutscher kommt, um den Russen zu erschießen, stellen er und Gunter fest, dass in dem Gips kein Mensch mehr steckt, es ist eine Hülle ohne Mensch, der Mensch darin ist verschwunden.
Der Deutsche sagt, dass das „Das Wunder von Stalingrad“ sei und dass man auf ein solches Ende hoffen müsse, denn einen anderen Ausweg gäbe es nicht. Da kommen die Russen und schießen die Übrigen tot.
Die Frauen Herberts erleben während dessen ein kleines Abenteuer. Sie sind alle am Starnberger See versammelt und halten ihre Kinder (wer die genauen Väter sind, ist nicht so wichtig, gescheiter ist es doch, wenn man weiß, wer sein Kind ist), auch kleine Katzen sind täppisch unterwegs. Auf ein Mal fliegen „Bomber, Amerikaner!“ über ihre Köpfe hinweg und die Frauen rennen von ihren Kindern weg, damit sie zerbombt werden und nicht ihre Kinder.
Die Frauen winken mit ihren Unterhosen dem Himmel zu, während sie sich gegenseitig versichern, dass sie nur Verachtung für kriegtreibende Männer haben, sie spucken gemeinschaftlich auf den Boden. Da stürzt einer vom Himmel ab, ein schwarzer, amerikanischer Soldat. Glücklich über die männliche Gesellschaft, wollen die Frauen ihn als Frau verkleiden. („Sonst erschlagen dich die Unseren.“) Und tatsächlich: kaum haben sie ihm die Bademütze und die weibliche Kleidung angezogen, da kommt schon der Nachbar (Joseph Bierbichler) mit der Axt angelaufen.
(Kleine Bemerkung: meine Schwester fragte mich unlängst, warum die Frauen „gegen die Bomenangriffe“ Bademützen tragen, diese seien sicherer „als das gefährliche Haar“. Ich meinte, die Mutter Achternbuschs soll Sportlehrerin gewesen sein. In „Die Atlantikschwimmer“ stellt er sie als Schwimmlehrerin dar. Aber andererseits ist es eben seine Form von Surrealismus. Aus heutiger Sichert erinnern die Badehauben gegen Bombenangriffe an die FFP2 Masken, von denen wir wissen, dass sie nicht vor Viren schützen, weil sie dafür viel zu grobmaschig sind.)
Hier übrigens, hat schon eine wichtige Musik eingesetzt, sie klingt nach einer Mischung aus Idylle und Atomwinter, oder jedenfalls nach gemeinsamer Einsamkeit in einem Leben voller Todesahnung und Hoffnung, es ist Dvorzaks „Symphonie aus der neuen Welt“.
Der Nachbar eilt, wie gesagt, herbei und will den Schwarzen mit der Hacke erschlagen. Doch die Frauen überfallen ihn zärtlich und binden ihn an einen Baum. Zuerst streitet der Nachbar mit den Frauen und sagt, bald würden sie alle erschossen: „Peng, peng, peng, peng!“, erläutert er.
„Du bist doch plem, plem, plem“, sagen die Frechen ohne Angst dazu.
Ein Wirrwarr aus einfachem Peng-peng-peng und mehrfachem Plem-plem-plem mischt sich in die Musik und man meint, vielleicht den glücklichsten Augenblick im Leben dieser Menschen mitzuerleben.
Der Nachbar wird versöhnlich, nachdem er die Familienfotos des Schwarzen sieht, er meint zwar überlegen: „Dass die Deinen schwarz sind, das glaube ich dir. Das liegt doch auf der Hand. Komm. Bind mich los.“ Aber sanfter wird der Nachbar nichtsdestotrotz. Seine Begründung für diesen Umstand ist, dass dieser Schwarze wenigsten für etwas Farbe in den Kindern der Frauen sorgen könnte. Somit könnten sie nicht jedem Mann ihre Babys andrehen. (Jetzt werden Kühe und Kälber gezeigt: in der Tat. Alle gleich, seit Generationen.)
Jetzt erzählt der Sepp was über den Herbert, von dem er übrigens nicht weiß, wie er sich in die Armee geschlichen hat. Der Herbert hatte ein Handtascherl, das er unbedingt loswerden wollte, an eine Frau, die sich seiner noch erinnert, wenn er nicht mehr ist. Alle Frauen haben es abgelehnt, bis auf die Anytta, die hat es genommen und geweint. Aber keine von den Weibern hat gemerkt wie viel Brustwarzen die Tasche hatte, nämlich sechs, genau wie der Herbert selbst und dazwischen war die Rose von New Orleans eintätowiert. (Das einzige Geschenk vom Herbert war eine zu große Last.)
Der Ausweg im Hofgarten
Zwei Rentner stehen im Hofgarten und lesen die Schrift auf dem Denkmal der toten Soldaten: „Sie werden auferstehen“. Sie ängstigen sich, weil ihre Rente ja schon so wie es ist, hinten und vorne nicht ausreicht. Wie wird es erst, wenn die alle auferstehen und ihren Teil fordern? Eine abgespulte Stimme sagt immerzu: „Bitte warten. Bitte warten. Bitte warten.“
Eine junge Dame besucht den toten Soldaten und vergisst ihre Jacke bei ihm. Er steht auf, so wie es in der Schrift versprochen war, und zieht ihre Jacke an. Es ist der verlorene Herbert, der im Gips gestorben und hier im Hofgarten wieder zum Leben findet. Er redet die Rentner auf Russisch an. Die Frau sagt: „A Russ“, der Mann meint: „Für mi is des a Gspinnerter und kei Russ.“
Über alle Maßen wundert sich der Soldat, dass jemand in Stalingrad Deutsch kann. Da kommt die junge Dame daher und nimmt ihm die Jacke ab, die ja ihr gehört. Hand in Hand geht sie mit einem Mann davon, der dem schwarzen, abgeschossenen Amerikaner gleicht. Herbert setzt sich auf eine Bank, neben die Rentner. Vor ihnen auf dem Boden liegt eine Rose neben einem Hundekot. Die Frau sagt ihrem Mann, dass sie die Rose möchte, aber er entgegnet, dass er nur einen Hundsdreck sieht. Sie sagt zynisch: „Hast du schon a mal was anderes gesehen wie einen Hundsdreck?“ Offensichtlich nicht, denn er weigert sich, die Rose zu sehen, die Herbert jetzt begeistert aufhebt und der jungen Dame schenkt, die übrigens in ihrem Gesicht lauter schwarze Punkte hat.
Sie führt ihn vom Hofgarten bis zum Marienplatz und versichert ununterbrochen, dass er sich in München befindet: im einzigen München. Er aber glaubt es nicht, er denkt, dass Stalingrad nach der deutschen Eroberung nun in München unbenannt wurde und bringt das Argument: „So viele Autos, genau wie der Führer versprochen hat.“
Die junge Dame behauptet felsenfest, dass es hier weder Nazis noch Kozis (Kommunisten) gäbe, sondern nur Geld: und zwar den Überfluss davon wie den Mangel.
„Wie langweilig. Wie ungerecht.“, meint der Stalingradkämpfer und fügt hinzu, dass die Ungerechtigkeit immer langweilig sei, gerade so… wie ein KZ… „Ein was?“ „Nichts, nichts. Pscht. Ich habe nichts gesagt.“ „Was?“ „Nichts, nichts.“
Aber wo sind die Symbole des Nationalsozialismus, fragt sich der Mann. Ist es möglich, dass alle so gute Nazis geworden sind, dass sie kein Zeichen mehr für die Ideologie benötigen?
Nachdem sie auf dem Marienplatz Spenden eingesammelt haben, verabschieden sich der Stalingradkämpfer und die junge Dame. Die Frau will ihm Mut machen und ruft ihm noch zu, er solle blind an sich glauben, doch Herbert bekommt seine Augen nicht richtig auf.
Er fährt mit der Bahn zum Starnberger See. Zwei Polizisten stehen vor einem Steg und diskutieren darüber, wie man mit Anglern zu verfahren habe. Große Fische gehen in den Besitz des Anglers über, kleine Fische hingegen nicht. Als sie Herbert erblicken, nennen sie ihn „teurer Kamerad“ und erkundigen sich, wie es an der Front war.
„Mit solchen wie euch hätten wir den Krieg verloren.“, meint der Stalingradkämpfer.
„Der ist gut, der ist echt gut!“, lacht der ranghöhere Polizist begeistert.
Auf dem Steg schläft ein Mann. Er sieht dem Frontenbold Gunther aufs Haar gleich. Herbert erkennt ihn, umarmt ihn stürmisch und fällt mit ihm ins Wasser, nachdem der rangniederere Polizist ebenfalls ins Wasser gefallen ist.
„Moment! Warum taucht denn hier keiner mehr auf?“, fragt sich der übrig gebliebene Polizist auf dem Steg. Herbert taucht auf und zieht den Polizisten auf den Steg, weil er ihn für Gunther hält. Gunther währenddessen, läuft an Land und rennt weg.
„Immer läuft er weg, der Gunther!“, meint Herbert.
Man sieht Gunther, wie er in ein Haus rennt, es sieht aus wie ein Gasthaus, aber es ist eine Kirche. Drinnen sitzt der Priester und erwartet Gunther, der nicht Gunther ist, sondern der Sohn von Gunther … Traudilein.
Es ist sehr schwierig, das alles zu beschrieben, vor allem, weil jetzt ein Feuerwerk an Höhepunkten auf den Zuschauer einbricht. Die Musik ist jetzt „Stabert Mater“ von Pergolesi.
Und die Musik selbst ist ungewöhnlich: statt auf einen Höhepunkt hinzuarbeiten, besteht sie nur aus Höhepunkten. Deswegen passt sie so ausgezeichnet zu den berückend schönen Szenen, die jetzt folgen. Meiner Meinung nach ist dies das Herz des Films und es ist die geglückteste Verbindung von Bild, Sprache und Musik, die man sich vorstellen kann. „Stabert Mater“ wird in seiner Wirkung durch den Humor gesteigert, der Humor hingegen wirkt erhaben und zeitlos durch die Musik und die stilisierten Bilder. Die drei Welten: Bild, Klang und Sprache verbinden sich hier in traumhafter Weise. Wenn man den Film das erste Mal sieht, fliegt man hier bereits und man kann nichts im Gedächtnis behalten, weil auf jede Erscheinung eine scheinbar noch größere Erscheinung folgt.
Gunthers Sohn steht am Scheideweg seines Lebens: er soll heiraten aber es fällt ihm schwer, seinen Pfarrer zu verlassen, dessen Koch er ist. Seine Mutter ist auch nicht für diese Ehe, aber für den Pfarrer ist sie auch nicht. Sie findet, wenn er so viel beichtet, kommt er nicht mehr zum sündigen.
„Herr, du kennst meine Sünden all, haben wir sie doch zusammen begangen“, betet Gunthers Sohn Traudilein. Er verabschiedet sich von seinem Schrank und bittet diesen um Verzeihung der wenigen Gedanken wegen, die trotzdem beunruhigend waren und der Tränen wegen, die er darin geweint hat. Er verabschiedet sich von seinem Verkündigungsengel und dem Engel fällt eine Feder herunter – Traudilein hebt sie auf und steckt sie ihm höflich wieder an…
An dieser Stelle bin ich unwillkürlich an Werner Herzog erinnert: in seinem Film „Auch Zwerge haben klein angefangen“ bricht einem anarchistischen Zwerg die Türklinke ab und er steckt sie verlegen wieder an die richtige Stelle. Laut Werner Herzog ist dies das Kleinbürgerliche, das durch den wütenden Anarchisten durchschimmert. – Und es gibt noch eine Stelle, die an Werner Herzog erinnert – aber die kommt noch.
Traudilein hat seinen Priester trainiert, damit dieser den Stein im Wettbewerb am Höchsten hebe. Aber das ist nicht alles: Traudilein hat auch der Konkurrenz so laut: „Arschloch! Arschloch!“ zugerufen, dass ihnen die Moral ausging und der Sieg ausblieb.
Aber der Pfarrer findet, dass mehr Verdienst an ihm selbst läge, als an seinem Pfarrerkoch. Bayrische junge Frauen, die tanzen werden von der Taille ab gezeigt, ihre Kleider fliegen vor lauter Drehungen. Der Pfarrer sagt: „Du hingst mit deinem Rüssel an all dem Tand.“
Und Traudilein entgegnet, er könne sein Fleisch doch nicht dauernd betrunken machen: „Das Fleisch ist kein Planet mit eigner Bahn, das Fleisch, es hängt am Fleische dran.“
Herbert ist jetzt verzweifelt, dass Gunther sich nicht an ihn und seine Vergangenheit erinnern will. Traudilein (wie gesagt, der Sohn Gunthers) ruft seiner Mutter zu: „Bitte, tu mir diesen Kriegsbanditen weg!“ Aber die Mutter weigert sich. Der Herbert hätte ehrlich seine Schlacht geschlagen. Herbert aber ruft Traudilein zu: „Erinnere dich!“
Und inmitten der Erinnerung ändert sich die Geschichte plötzlich. Herbert erzählt: „Wir waren entflohene KZ-Häftlinge“.
(Warum ändert sich die Geschichte Herberts? Meine Interpretation ist: Herbert war Stalingradkämpfer, er hat gelitten und möchte sein Leiden verständlich machen. Aber die Menschen haben für sein Leiden nichts übrig und so erzählt er eben die Geschichte von seinem Leiden in einer anderen Verkleidung, in einer, die von der Gesellschaft und den Nachgeborenen akzeptiert wird.)
Es folgen jetzt Szenen, die die Erzählungen Herberts darstellen, die er als Erinnerungen ausgibt. Sie sind hochstilisiert und sehr stark vom Stummfilm beeinflusst. Die Figuren reden nie mit eigener Stimme, es ist immer der Erzähler, der beschreibt. Man kann diesen Teil zusammenfassen mit: „Wir waren zwei KZ-Häftlinge mit einer deutschen Uniform.“
Sie waren also zwei Flüchtige und einer von beiden muss sterben, damit der Andere mit der Tarnung überlebt. Herbert bringt Gunther um, indem er ihn mit einem Stein erschlägt.
Dieses Erschlagen wird später noch mal in Zeitlupe wiederholt (alles zu „Stabert Mater“) und hier bin ich wieder an Werner Herzog erinnert: die Szene als Woyzeck die Marie ersticht, die Szene zu Zeitlupe wechselt und dieser bedeutungsvolle Musikwechsel stattfindet.
An dieser Stelle möchte ich nochmals eine Interpretation anbieten: Der Stalingradkämpfer hat, wie gesagt, wirklich gelitten und er sucht nun nach der passenden Geschichte zu seinem Erlebnis, eine Geschichte, die auch jeder versteht. Da er die Schuld aber nicht wegleugnen kann und im Gegenteil rechtfertigen möchte, stellt er sich als unmoralischen KZ-Häftling dar, der seinen eigenen Kameraden erschlägt. Einerseits ist es eine Beichte, andererseits eine Rechtfertigung, da er sagt, dass die anderen Beteiligten im Krieg ebenfalls Unmoralisches getan haben und damit weiter leben mussten und sogar konnten.
Die Szene kommt jetzt wieder zurück zum Priester, Traudilein, Herbert, Traudileins Mutter Traudi und nun betritt überraschend Anytta den Raum. Herbert schaut entgeistert: „Anytta!“
Traudi sagt: „Anytta ist das nicht, das ist Anita.“ Mit anderen Worten die Enkelin Anyttas und Herberts. Anita setzt sich auf den Schoß des Pfarrers, der ja keine Gefahr für sie darstellen kann, denn was kann ein „schwuler Herr“ einem jungen Mädchen antun? Der schwule Herr versucht dem Mädchen die Religion zu erklären und endigt mit „Verstehst du das Programm?“ Sie schüttelt lange den Kopf, wie ein Pferd, das sich von seinen Gesichtszügeln befreien möchte.
Die Hochzeit kommt und Traudileins beunruhigende Pfarrerphase nimmt damit ein so beunruhigendes Ende wie dieses. Der Nachbar Sepp ist da und er denkt, dass er der Vater von der Annamirl ist (der Mutter Anitas), daher schenkt er ihr fünf Mark und steckt sie ins Handtascherl, das ihr vermacht wurde und worin sie so ein schreckliches Buch fand: „Ausmerzen“. „Ausmerzen? Hat das mit dem Merz was zu tun?“, fragt Sepp den Pfarrer. Aber der Pfarrer meint hauptsächlich, dass die Kirche eben Verschiedenes ausmerzen muss, die Singvögel unter den Vögeln, die Blumen unter den Pflanzen und vor allem die Dichterköpfe, damit nur noch die Computerköpfe rattern.
Herbert versucht jetzt Anita zu verführen, er führt sie weg zu den Hügeln, wo die Rosen wachsen. (Herbert behandelt seine Krücke in der selben Weise, wie Chaplin seinen Spazierstock. Er hat den gleichen Schnurrbart auch wie dieser in „Der große Diktator“. Der Hut fehlt selbstverständlich auch nicht.) Die Rosen wachsen überall dort, wo er sich mit Frauen vergnügt hat. Bei fast jedem Rosenstrauch kann er etwas erläutern: „Hier haben wir deine Großmutter gezeugt.“
Aber Anita findet die alten Geschichten langweilig und Rosen hätten ohnehin so blöde Stacheln.
Sie gehen an einem Hügel vorbei, da springen zwei Springer in die Höhe, um einen Rosenstrauch zu erblicken. „Denn diesen Rosenstrauch zu erblicken ist ihr ein und alles.“
Anita blickt aber dauernd zur Autobahn hinüber und fragt, ob sie nicht lieber raten wollen, in welchem Auto einer drin sitzt und in welchem zwei. Herbert findet das langweilig, aber er gibt sich selbst zu, dass er sie nicht begeistern kann mit seiner Vergangenheit. Da rennt sie auf die Straße zu. „Ja, willst du denn dem ersten von der Autobahn entgegenlaufen?“ “Ja!“
Sie rennt auf einen Mann mit Blumenstrauß zu, einem Schwarzen, identisch dem abgeschossenen Amerikaner. Sie umarmt ihn, nimmt die Blumen und sagt begeistert: „Rosen!“
Derweil ist keiner der Hochzeitsgäste mehr übrig geblieben außer Sepp. Der geht stark betrunken auf einen Steg zum See und hält einen Monolog darüber, dass ein neuer Hitler kommen könnte und alle ihn unterstützten würden. Über Herbert meint er, dass der niemals in Stalingrad war: „Wahrscheinlich war der nur zwanzig Jahr in Andechs… besoffen!“
Ganz an der Spitze des Stegs pinkelt er in den See und ruft in die Nacht hinein: „Heilt Hitler! Heilt euch doch selber!“
„Das Andechser Gefühl“ ist Achternbuschs einfachster Film und gilt auch als sein Erster. Deswegen ist er vielleicht ein guter Einstieg. Es ist ein Biertraum von „Italien“ mit tragischem Ende und die Handlung beschränkt sich auf zwei Tage: Heute und Morgen. Am Anfang werden diese beiden Tage ahnungsvoll in einander geschnitten bis sich Morgen endgültig in Heute verwandelt.
Heute sitzt ein Lehrer im Biergarten von Andechs. Seine Taschenuhr erinnert ihn an Morgen, denn Morgen wird über sein Schicksal entschieden: Verbeamtung auf Lebenszeit oder Arbeitslosigkeit. Ein Schulrat wird seinem Unterricht beiwohnen, um ihn zu beurteilen. Der Lehrer lässt seine Taschenuhr in sein Bier fallen, trinkt, verschluckt sich daran, wird kreidebleich und stirbt fast. Die hilfreiche Kellnerin eilt herbei und schüttet ihm ein Bier über den Kopf. Er spuckt die Uhr aus und wundert sich darüber, wie spät es schon sei. Er denkt, dass er Morgen sterben muss und er denkt weiter, dass die Filmschauspielerin folglich noch heute kommen müsse, um ihn noch lebend anzutreffen. Sie ist seine frühere Geliebte und kommt schon den geschlängelten Weg angefahren in ihrem gelben Auto, ihrem gelben Kleid und den gelben Haaren, ganz wie ein goldener Traum steht sie vor ihm. Sie freuen sich, aber plötzlich schweigen sie. Was hat man sich zu sagen? Nichts. Aber die Zeit im Biergarten ist wie angehalten und das Biertrinken verbindet. So sprechen sie im Chor:
„Das Andechser Gefühl, ist ein Gefühl, dass man nicht allein ist.“
Aber hat sich Morgen vielleicht schon angeschlichen? Der Lehrer ist schon in der Schule und hält eine Unterrichtsstunde über das Menschenhaar:
„Wenn einer von euch auf die Universität kommen sollte, wird er den prozentualen Unterschied zwischen Morgenausfall und Abendausfall erfahren. Für euch übrigen reicht, dass wir am Tag 120 Haare verlieren. Übrigens wächst das Haar im Sommer schneller als im Winter.“
Vielleicht ist dem Lehrer sein Wissen sinnlos geworden und deswegen spricht er so gelangweilt. Der Schulrat ist aber nachsichtig und erklärt, dass die Weltanschauung wichtiger sei, als eine missglückte Unterrichtsstunde. Doch in einem Verhör stellt sich heraus, dass die Ansichten des Lehrers höchst desillusioniert und anti-propagandistisch sind. Warum ist der Schulrat trotzdem zufrieden und lässt den Lehrer die Prüfung bestehen?
Zurück im Biergarten nimmt das holprige Gespräch seinen Lauf. Alles redet über die Filmschauspielerin und ein Mann schneidet sich das Ohr ab, zum Zeichen, dass sie schön ist. Eine junge Frau will ein Autogramm, doch zwei Burschen fangen grundlos eine Schlägerei an und dabei wird die Schauspielerin am Kopf getroffen und fällt in Ohnmacht. Der Lehrer trägt sie weg. Als sie aufwacht, weiß sie nicht mehr, ob sie seine Mutter ist oder nicht. Er fragt:
„Magst du immer noch solche Filme, in denen hundert Mädchen auf hundert Harfen spielen, hundert Mädchen als hundert Blütenblätter, hundert Mädchen in hundert Betten, hundert Mädchen…“
(Diese Stelle habe ich ausgewählt, weil sie ein Beispiel ist, für die Art, wie Achternbusch mit Zahlen umgeht, sie lyrisch verfremdet. Denn was kann für einen Menschen, der zur Vereinzelung verdammt ist, die Vielheit von Menschen sein? Man kann nicht für zwei Menschen das Doppelte empfinden, wie für einen und für eine Millionen Menschen eine Million mehr als für die eigene Mutter. Oder?)
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