Ich habe ein sehr gutes Buch von W. B. Yeats mit dem Titel „The trembling of the veil“. Man könnte den Titel übersetzen mit „Das Zittern des Schleiers“. Bei Schleier denkt man, dass sich ein Mensch, vermutlich eine Frau dahinter befindet, die verhüllt wird. Meistens wird etwas oder jemand verhüllt, ein Mensch, tot oder lebendig, oder nichts, um zu verheimlichen oder (bei Gelegenheit) zu enthüllen, dass nichts hinter dem Schleier ist, dass eigentlich nichts angebetet oder angestaunt oder mystifiziert wird. Könnte natürlich auch sein, dass ein Geist dahinter ist, der die Bewegung in den Schleier bringt, durch Atem oder Bewegung… ? Das Spannende an dem Titel ist eben die Enthüllung oder auch, dass die Enthüllung nicht nötig ist, weil man versteht, WESHALB der Schleier zittert. „Der Hauch hinter dem Schleier“, vielleicht?
Es gibt immer wieder Menschen, die etwas Ähnliches versuchen, was schon andere versucht haben und es täte sehr gut, wenn die neueren Versucher über die Fehler und Einsichten ihrer Vorgänger Bescheid wüssten. Das wäre sogar der eigentliche Sinn vom Lernen aus der Geschichte. Vielleicht ist es sogar der einzig wahre Sinn der Geschichte.
Mit Geschichte meine ich natürlich nicht „Narrative“ oder seine neudeutsche Übersetzung. Denn Narrativ impliziert, dass es nur um eine festgelegte Erzählweise geht. An einer Erzählweise sind bestimmte Eckpunkte oder Knotenpunkte wichtig, aber nicht unbedingt richtig. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Kultivierung der Lüge.
Hier unten in dem Schaubild sieht man eine Zusammenfassung des Prozesses. Am wichtigsten ist der letzte Punkt „intended response“, der in Wirklichkeit der erste Schritt ist. Man beginnt in der Semiotik damit, dass man eine bestimmte Reaktion eines Betrachters beabsichtigt. Nach diesem Ziel wählt man dann Zeichen, Kontext, Bedeutung etc.:

Es gibt Elemente der „Sprache“ (im weitesten Sinn, wie Semiotik Sprache ansieht. Beispiel. Wenn du vor einen Chef trittst in seinem Büro und er einen enorm großen Tisch vor sich hat, dann ist das innerhalb seiner Sprache, egal, was er sonst sagt: „Ich bin so enorm wichtig, wie mein Tisch groß ist. Was willst du von mir?“) und Methoden, die dem Ausbau oder der Machtergreifung dieser permanenten Lüge in den Köpfen der Menschen förderlich sind. Man muss diese Elemente und Methoden nicht durchschauen, um sie richtig anzuwenden. Daher lernt man sie in Schulen und Universitäten. Es ist ein Modell zum Zusammenbauen.
„Semiotik ist im Prinzip die Disziplin, die alles untersucht, was verwendet werden kann, um zu lügen. Wenn etwas nicht zum Lügen verwendet werden kann, dann kann es umgekehrt nicht dazu dienen, die Wahrheit zu sagen: es kann überhaupt gar nichts aussagen”. (Umberto Eco, A Theory of Semiotics, 1976).
Es gibt eine seltsame Verdrehtheit in diesen Sätzen. Eine untersuchende Disziplin (das klingt tugendhaft oder militärisch oder beides, obwohl Tugend und Militär möglicherweise unvereinbar sind), die das Lügen untersucht, sollte sich eigentlich auf das Lügen konzentrieren und nicht auf die Gegenstände, die zum Lügen verwendet werden.
Und warum ist Eco in seiner zentralen Definition so ehrlich zu sagen, dass es nur um das Lügen geht. Wenn die Aufgabenstellung wäre, alles zu studieren, was verwendet werden kann, um ehrlich zu sein oder um die Wahrheit zu entdecken (das ist normalerweise nicht das gleiche), dann würde man möglicherweise andere Gegenstände betrachten und zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen.
Ich würde sogar sagen, es gibt noch ein Drittes, was zur Produktion von „Narrativen“ nötig ist, also Elemente, Methode und – Stimmung. Ich möchte das ganz kurz erläutern an einem Studenten. Er lernt 1. Elemente, das sind Wörter (Fachbegriffe etc.) selbst und feste Wortkombinationen, 2. Methode, nämlich Sätze bilden aus Elementen, die in sich schlüssig sind und auf Zustimmung in Universitätskreisen stoßen und dann noch 3. eine „Stimmung“, die beides trägt, zum Beispiel die Stimmung „Wir sind Experten unter uns“ (diese Stimmung ist sehr typisch für Universitäten). So eine Stimmung ist eine sehr von außen auf sich schauende Stimmung. Nicht eine Stimmung, die von innen kommt, sondern eine Stimmungsreaktion auf andere. Früher nannte man das Eitelkeit, heute nennt man es häufig Ego.
Ob der Träger dieser Elemente, Methoden und Stimmung nun den tieferen Sinn, des zu bildenden Narratives wirklich versteht, welches er unterstützt, ist nicht wichtig. (Wichtig ist, dass einige Schlüsselpersonen in Machtstellungen genau wissen, worum es geht und alles im Blick haben.)
Warum setzt man dieses Narrativ ein?
Unter anderem, um „wahre Logik“ zu unterdrücken. Blenden wir kurz ein Bild ein: ein Mann zielt mit Pfeil und Bogen auf einen faustgroßen Stein auf dem Boden. Was denkt man? Man denkt, dass der Pfeil zu schwach ist, um etwas am Stein zu bewirken und man fragt sich, was der Sinn dieser Handlung sein könnte. Man denkt also über Ursache und Wirkung und über Verursacher und Absicht nach.
Natürlich kann man immer alles abstrahieren und meinen, der Vorgang dieser Abstraktion wäre viel nobler als die banalen Fragen: was trifft auf was und was ist die Absicht dahinter? So denken Tiere, vor allem, wenn es ums Überleben geht. Und ich kann nicht sagen, dass sie Unrecht haben.
Ich möchte hinzufügen, als Anstoß, wenn man den Text „Was ist Denken“ von Heidegger liest, dann sollte man sich nach Heideggers Absicht fragen in seinem Setzen der Wörter, statt nach seinen Elementen (Wörtern und ‚auseinandergesetzen Wörtern‘) zu greifen und diese nach der Methode der Universität wieder zusammenzubauen. Natürlich wird man an der Universität akzeptiert, wenn man Heidegger liest, seine Schlagwörter nimmt, seine bestimmten Wort-Trennungen usw. und den Rest mit gefälligem Gebildetendeutsch füllt. Aber das ist nicht seine Methode und auch nicht das, was er vorschlägt… Ich glaube, Heidegger hätte Ezra Pound zugestimmt, als dieser meinte: „Wir denken, weil wir nicht wissen.“ Es gibt bestimmte Prozesse, die Wissen generieren können. Der semiotische Prozess gehört nicht dazu. Und zwar, weil er sich am besten zum Lügen eignet. Der Beweis? Die semiotische Theorie findet ihre beste Anwendung im Marketing, in der Werbung. Beispiel. Die aufgeblasene, metallisch glänzende, meist rot und goldene Verpackung von Chips (minderwertige und überteuerte Lebensmittel, die aber sehr knusprig sind), wirken auf den zufälligen Passanten, der eigentlich Babykarotten kaufen wollte, appetitanregend, um es vorsichtig zu formulieren, sie wecken bei ihm Gier und Heißhunger. Das klingt harmlos, aber diese Person wollte womöglich gerade ein gesünderes Leben anfangen, als sie ‚gehackt‘ wurde von semiotischen Werbefuzzis.
Ein anderes Beispiel. „Race for the White House“. Die USA sind bei weitem am Fortgeschrittensten in den Werbekampagnen von Politikern. Dem Zufall wird nichts überlassen. Und ich empfehle dem Skeptiker, zuerst 10 Fotos der berühmtesten Demokraten – 10 Fotos der berühmtesten Republikaner gegenüberzustellen. Es kann niemandem entgehen, dass diese ersten 10 auffällige Gemeinsamkeiten im Gesicht haben, ebenso wie die zweiten 10. Ich überlasse jedem die Analyse hiervon und schreibe nur ganz kurz meine Eindrücke. Der Demokrat wirkt insgesamt, als ob er nach oben blickt, sozusagen zu einem Engel, den er in seinem Gesicht dann nachahmt, sie sind etwas zu heilig, um wahr zu sein. Der Republikaner wirkt, als ob er eher auf die Erde schaut, entsprechend ist sein Gesicht häufig runder oder kantiger im Kiefer, er schaut auf keine Engel, er ist zu „schlau“. („Schlau“ ist die Übersetzung von „smart“. Heute sagt fast keiner mehr „intelligent“. Das Beste, was man über einen Menschen sagen kann ist, dass er „smart“ ist, siehe der Sprachgebrauch von Donald Trump und Elon Musk. Ich habe die beiden noch nie von Intelligenz sprechen hören, nur den zweiten von „künstlicher Intelligenz“. Bei einem eigentlichen Menschen ist das höchste der Gefühle aber „smart“.)
Der Republikaner ist gleichzeitig Cowboy und reicher Geschäftsmann. Und Ronald Reagan war daher seine perfekteste Darstellung. Der Cowboy (Arbeiter in der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert) und der Geschäftsmann (auf-dem-Stuhl-Sitzer und höchstens Hobbysportler oder Golfer) haben eigentlich nichts gemeinsam, aber das stört die Propaganda nicht. Sieht man sich in diesen Überlegungen Putin an, merkt man, dass er „Republikaner“ ist, ironischerweise? Manchen gilt er als Ex-KGB und Erzkommunist. Tiefe Widersprüche sind nicht das Problem von Semiotikern, im Gegenteil, der gerade stattfindende Krieg ermöglicht es allen Parteien, gegen die Nazis zu kämpfen (the hero against the villain), obwohl diese gegenseitig kämpfenden Parteien, „Nazis“ oder „Faschisten“ nicht definieren könnten, noch jemals auf die Idee kämen, einander zu fragen, wie es sein kann, dass sie einander bekämpfen, obwohl sie das gleiche bekämpfen? Aber das ist ein Tabu.
(Noch ein Beispiel. Kanye West hat sich zumindest ein Mal sinnvoll geäußert, als er sagte: „Wir“ – Er meinte dabei sich und seinesgleichen. – „Sind nicht die Illuminati, wir sind Gesichter von Marken.“)
Zeichen können alles Mögliche sein, womit man lügen kann, folglich können sie ein Buchstabe sein (siehe gerade ein Buchstabe, der sich in Russland ausbreitet, obwohl er gar nicht in dem kyrillischen Alphabet existiert. Ich nenne ihn aus politisch korrekten Gründen „ts“.), ein Wort, eine feste Wortverbindung, ein Bild, ein Schnurrbart, eine Frisur (siehe die Abstraktion und Reproduzierbarkeit von Andy Warhol), Mikey Mouse Ohren, ein Geruch (siehe Parfüms), ein Auto (Statussymbol), eine Schriftart (so binden Zeitungen ihre Leserschaft, Süddeutsche, die Zeit, Bild usw.) und im Grunde alles, womit man lügen kann. Was ist mit Zahlen? Nichts einfacher als das. Wenn man zum Beispiel möchte, dass ein medizinisches Produkt, das man verkauft, als 99,98 % wirksam angesehen wird, wäre es am besten, dass man einfach genau das semiotisch zeigt, indem man die Zahl in dem Zusammenhang wiedergibt. Das wirkt auch sehr wissenschaftlich und passt sehr gut zum Slogan „Science will win“. Probleme können nur von juristischer Seite herkommen und dann kann man entweder 1. Die Idee aufgeben oder 2. Eine gemeinsame Lösung finden, die für alle notwendigen Parteien angenehm und vorteilhaft zugleich ist. Man muss immer an die Gemeinschaft denken und zu einer gemeinschaftlichen Ver…gewisserung und Ver…ständigung kommen.
Damit diese Ver…bindlichkeit nicht mit Verschwörungserzählungen verwechselt wird, braucht es nur einen Gesichtsausdruck (ein Zeichen).
In Wirklichkeit ist ein Gesichtsausdruck kein „Zeichen“ in einem semiotischen Sinn, sondern ein „Anzeichen“ für eine Gemütsregung. Schauspieler lernen, diese zu imitieren oder eine Gemütsregung in der Vorstellung zu durchleben und dadurch den Gesichtsausdruck zu erhalten. Es klappt nur eingeschränkt gut, aber die Menschen sind sehr stark konditioniert, „Schauspieler“ zu sehen und zu akzeptieren. Also vor allem Menschen, die nicht aus ihren eigentlichen Impulsen heraus sprechen. Alle Nachrichtensprecher gehören dazu. Bei vielen ist Tucker Carlson von Fox sehr beliebt, aber er hat keinen Ausdruck in den Augen. Zwar runzelt er gerne die Stirn, um von seinen ausdruckslosen Augen abzulenken und bewegt sehr intensiv seinen Mund, aber etwas stimmt nicht an dem Gesamteindruck.
Politiker gehören dazu. Trump erinnert ein wenig an Carlson, indem er ebenfalls sehr stark mit dem Mund redet, so stark, dass es so scheint, als würde dieser Mund ganz alleine sprechen. Und sein Mund erinnert wirklich etwas an eine Trompete, weil er seine Lippen so nach außen stülpt, wie ich es noch nie ‚in der freien Natur‘ gesehen habe.
Unsere neue Außenministerin wird oft verspottet, weil sie den Anschein macht, Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache zu haben. Ich glaube nicht, dass es so ist, sie kann nur nicht die Texte sprechen, die man ihr vorgibt, weil diese Texte vollkommen absurd sind. Kleinen Kindern passiert oft etwas ähnliches, wenn sie versuchen mit „Erwachsenenwörtern“ zu reden und die Zustimmung der Erwachsenen dadurch zu bekommen. Sie vertauschen dann versehentlich ein Wort und es entsteht eine Komik, weil es fast nach Satire klingt. Vielleicht hat die Außenministerin eigentlich ein ähnlich gutes Gehirn wie ein Kind, es denkt dann vielleicht „Ob du jetzt ‚Schwergewicht“ oder „Schwergesicht“ sagst, kommt aufs Gleiche raus, weil es keinen Sinn ergibt, nimm einfach das Wort, was deine Zunge spontaner will.“ Das Reimen und Assoziieren ist auch normal. Ich erinnere mich an eine Zeit, wo ich immer wieder den Drang hatte, „Gesicht“ zu sagen, statt „Gedicht“. Ich glaube nicht, dass es so weit kam, dass ich das eigentlich in gesprochener Sprache verwechselt habe, aber der Impuls ist nicht anormal.
Ihr vorgegebener Satz war eigentlich: „Kann ein Europa ein Schwergewicht sein?“
Schon bei „ein Europa“ muss man sich fragen, ob es mehrere gibt oder ob sie an Parallelwelten glaubt?
Insgesamt muss man sagen, dass der Satz so sinnvoll ist, wie: „Kann ein Europa ein Pferd sein?“
Das wäre auch kein sinnloser Satz. In einer Stelle von „Die Republik“ sagt Platon, dass ein Volk oder ein Land wie ein Pferd ist. Manche Leute sind die Beine davon (die Arbeiter) und andere sind der Kopf (die Philosophen). Trotzdem zeigt es die Grenzen des Vergleichs oder der Analogie, denn über die anderen Körperteile eines Pferdes äußerte sich Platon nicht. Und auch hier erinnert es ein wenig an Kinderdenken und Kinderzeichnungen von Kopffüßern.

Man fragt sich natürlich trotzdem, ob ein Volk wie ein Pferd ist, indem manche Volksteilnehmer einfach am besten geeignet (begabt) sind, um gedankenlos zu arbeiten und andere dafür geeigneter sind um nicht zu arbeiten, aber für die Arbeiter nachzudenken.
Ein Gehirn würde auch nie auf die Idee kommen, die Beine „seines“ Körpers „auszunützen“ (marxistischer gesagt: „auszubeuten“), um selbst nicht laufen zu müssen, es kann ja gar nicht laufen. Hingegen besteht so ein Volk aus mehreren getrennten Körpern, wo ein jeder Körper Beine, Gehirn und noch manch andere Körperteile hat. Aus diesem Grund hat man die Menschheit gerne mit Bienen verglichen, die Arbeiterbienen, die Königin und einige Funktionäre (?). Auch die Asexualität der Arbeiterbienen hat viele Denker inspiriert, die möglicherweise die „Woke“-Kultur ankurbeln.
Aber kann 1 Europa nun 1 Schwergewicht sein? Ich persönlich glaube nicht, dass die Schöpfer dieses Satzes an Übergewichtige gedacht haben, aber im Hinterkopf hatten sie das natürlich trotzdem.

Also warum sollte 1 Europa 1 Boxer aus der Schwergewichtsklasse werden? Ich persönlich würde Boxen einfach abschaffen, ich sehe keinen Sinn für die Teilnehmer und auch nicht für die Zuschauer. Man muss es nicht gleich verbieten, aber auch nicht fördern durch Werbung etc. Die Boxer bekommen durch die Erschütterung der Schläge oft bleibende Schäden in ihren Gehirnen. Wozu? Ja, und warum sollte jetzt Europa, eine Gegend mit sehr vielen Menschen „1 Boxer“ werden?
„Abends. Arbeit. Kino „Helden des Alltags“. Amerikanischer Film. Zwar Kitsch, aber heroisch. So ist jetzt das Weltgefühl.“
Goebbels, Tagebücher, 08.06.1933
Das kann schon sein, dass das Weltgefühl so war und vielleicht immer noch ist, aber als Propagandaminister muss man sich zumindest fragen, warum. Aber Goebbels hat sich das nicht nur nicht gefragt, er kam gar nicht auf die Idee, dass man das ändern könnte.
Wie entsteht Kitsch und warum durchleiden wir diesen so häufig?
Kitsch ist ein Erzeugnis, welches entsteht, wenn einer meint, dass eine Bevölkerungsgruppe was empfinden soll (Marketing) und folglich daraufhin handelt. Kitsch entsteht eben genau durch die oben beschriebenen Prozesse, die anfangen mit „intended repsonse“. Wie soll der Betrachter reagieren oder was soll er empfinden?
Wenn man zum Beispiel ein Gedicht schreibt, indem man sich zuerst vornimmt, dass der Leser hinterher erhabene patriotische Gefühle haben soll, dann ist das etwas völlig anderes, als irgend eine Sorte von Heimatliebe zu empfinden, weil man in der Natur spazieren gegangen ist oder sonstiges und dann daraus ein Gedicht zu schreiben. (Es entsteht nicht unbedingt gute Qualität durch die zweite Methode, ich will nur sagen, dass wir in unserer Kultur permanent ‚verleitet‘ werden und das geht so weit, dass sich der Mensch gewissermaßen gar nicht mehr selber versteht.)
Goebbels war nicht in der Lage dieses Problem zu erkennen. Die besseren Künstler, wie Emil Jannings, haben unter ihm gelitten.
W. B. Yeats hingegen, hat dieses Problem sehr gut gesehen, als er sich für die Unabhängigkeit von Irland eingesetzt hat und für die sogenannte irische Renaissance oder „Celtic Twilight“. In seiner lesenswerten Autobiographie schreibt er:
„(…) das Junge Irland hatte eine Nation gesucht, die vereint werden sollte durch eine politische Doktrin, eine unterwürfige Kunst und unterstützende Hilfsschriften.
(…)
Wenn man ein ländliches Liebeslied untersuchte, dann entdeckte man, dass es nicht geschrieben wurde von einem verliebten Mann, sondern von einem Patrioten, der beweisen wollte, dass wir tatsächlich über die feinsinnigste Bauernschaft auf Erden verfügten.“ (WBY, The trembling of the veil, Buch II, Teil II)
Ich will nicht behaupten, dass man ein verliebter Bauer sein muss, um aus der Perspektive eines verliebten Bauern zu schreiben. Das Problem kommt hier vor allem von der Absicht, im Leser den Eindruck zu erwecken, dass Irland die nobelsten oder feinsten Bauern der Welt hat. Das wahre Interesse des Schreibenden ist nicht bei Bauern oder Liebe.
Wie John Keats 1818 schrieb:
„Wir hassen Dichtung, die eine greifbare Absicht mit uns verfolgt – und wenn wir nicht einverstanden sind, ihre Hände in die Hosentaschen zu stecken scheint. Dichtung sollte groß & unaufdringlich sein, ein Ding, das in die menschliche Seele tritt und sie nicht aufgrund ihrer eigenen Erscheinung aufrüttelt oder verblüfft, sondern durch ihr Thema.“
Es ist die Pervertierung (Umkehrung) einer Methode in der Literatur, die der japanische Dichter Katue Kitasono als „Ideoplastie“ bezeichnet hat (beziehungsweise Ideoplastie ist die letzte Phase der Methode) und die ich in seiner Erklärung wiedergebe. (Der Text stammt aus einem Essay, der von Ezra Pound in ‚Guide to Kulchur‘ zitiert wurde:)
„Das interessanteste Thema für uns ist jetzt das Verhältnis zwischen Bildhaftigkeit und Ideoplastie. Zeitgenössische junge Dichter nehmen es mal mehr, mal weniger deutlich wahr und machen sich ernste Gedanken. Manche von ihnen sind wieder hinüber ans äußerste Ende gelangt und zurückgekommen. Andere haben die Suche aufgegeben, entdeckten ein seltsames neues Land und blieben Amateurdenker. Aber jeder, dessen Standboden in der Literatur ist, kann nichts für sie tun, wenn er das System der Literatur ignoriert.
„In ihrer Entstehung nimmt Dichtung wie folgt allmählich Gestalt an:
A. Sprache
B. Bildhaftigkeit
C. Ideoplastie
Das, was wir vage als poetischen Effekt bezeichnen, bedeutet im Allgemeinen Ideoplastie, die aus den Ergebnissen der Bildhaftigkeit erwächst. Der Mensch hat es erdacht, einen herzförmigen Raum aus zwei rechten Winkeln zu schaffen. Diese große Entdeckung in der Plastik, auch die der Kegelformen in der Mathematik, das sind zwei Mysterien, erschaffen durch den menschlichen Intellekt.
„Das Verhältnis zwischen Bildhaftigkeit und Ideoplastie lässt uns den herzförmigen Raum erahnen, der aus der Verbindung der beiden mysteriösen Kurven geboren wurde. Wir standardisierten diese zwei Kurven und erhielten eine Notwendigkeit.
„Was wir zuerst machen müssen für die Bildhaftigkeit, ist (in dieser Reihenfolge) Sammlung, Anordnung und Kombination. So bekommen wir die erste Zeile: „eine Schale, eine Schreibmaschine und Weintrauben“, worin wir ein ästhetisches Gefühl haben. Aber (darin) gibt es keine weitere Entwicklung. Wir fügen die nächste Zeile hinzu und dann wird ein neues ästhetisches Gefühl geboren. Auf diese Weise werden alle Zeilen kombiniert und die Strophe ist beendet. Das meint die Vollendung von Bildhaftigkeit dieser Strophe und dann beginnt die Ideoplastie.
„Dieses Prinzip kann auf Gedichte angewendet werden, die aus mehreren Strophen bestehen. In diesem Fall wird die Ideoplastie geformt, wenn die letzte Strophe fertiggestellt ist.
„Allerdings kann man es nicht als orthodox für Dichtung ansehen, dass Bildhaftigkeit durch Ideoplastie geformt wird.“
(An dieser Stelle empfiehlt Ezra Pound eine Pause zum Nachdenken.)
„Diese Gewalt wird oft von Religiösen, Politikern und Satirikern ausgeübt. Moralische Gedichte, politische Gedichte und satirische Gedichte stützen sich fast ausnahmslos auf ein solch unlogisches Prinzip.
„Die Phänomene in unserem Leben durchdringen unsere Sinne und gelangen in unsere Erfahrungen, Wahrnehmungen und Intuitionen. Es ist die Intuition, die rational die Grundlage für Bildhaftigkeit erschafft und es ist die Methode der Dichtkunst, die Intuitionen wahrnehmbar zu materialisieren und zu kombinieren. Als Konsequenz sind exakte Bildhaftigkeit und Ideoplastie das Resultat einer exakten Methode. Reine und orthodoxe Dichtung kann ohne diese Theorie nicht existieren.“

Übrigens hat sich Kitasono offenbar für Semiotik interessiert, ein Gedicht von ihm heißt „Semiotic Theory“: