Eine kleine Theorie der Fiktion

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Fiktion besteht darin, dass man glaubt, dass das Beschriebene erfunden ist, Fakten bestehen darin, dass man sie für wirklich hält. Beidem gemeinsam ist, dass man das eine oder das andere glaubt. Selbst, wenn sich jemand vornimmt, vollkommen ehrlich zu sein, ist es fraglich, ob er die Zusammenhänge, Ursache und Folge und so weiter begriffen hat. Oder wenn jemand vorsätzlich lügt, dann kann es passieren, dass er es beispielsweise durch den Blick seiner Augen verrät. Oder er belügt jemanden, der mehr weiß als er selbst und ist hierdurch erfolglos. Viele denken, es gäbe einen „rein intellektuellen“ Inhalt von Aussagen, den man („in vitro“) prüfen könne, ohne die Absichten des Sprechenden mit einzubeziehen.

Dieser Irrglaube ist an Universitäten sehr verbreitet, denn viele leugnen, dass bezahlte Lehrstühle zu bezahlten Lehrmeinungen führen.

Warum sollte jemand dafür zahlen, dass ein Anderer Meinungen verbreitet? Die öffentliche Meinung zum Beispiel ist eigentlich eine Fiktion und sie wird nur dadurch aufrechterhalten, dass so viele sie für echt halten und glauben, dass an jeder Straßenecke das Gespräch stattfindet, das im Fernsehen simuliert wird. Gebildetere Menschen hingegen vermuten, dass beim Abendessen andere Gebildete das sprechen, was angeblich zwischen Philosophen besprochen wird.

Wenn in den Zeitungen steht, dass die aktuelle Wirtschaftlage zur Inflation führen muss und dass der einzige Rettungsanker im Kauf von Gold besteht, dann werden das wieder viele glauben und gar nicht vermuten, dass der Grund für die ganze Inflationspropaganda darin liegt, dass die eigentlichen Akteure am Markt, die mehr Gold haben als sich Herr Huber überhaupt vorstellen kann, eigentlich verkaufen wollen und dies zu einem möglichst hohen Preis. Wenn diese Akteure dann verkauft haben, wird sich der Preis freilich wieder „stabilisieren“ und die „Goldblase“ platzt. Und wieder werfen alle die Hände über den Kopf und sagen, dass diese Spekulationsexzesse ihr natürliches Ende gefunden haben! 

Wahre Spiegel- oder Süddeutscheleser würden ihre Hand ins Feuer legen für das, was dort publiziert wird und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie sich den Bildlesern so überlegen fühlen. Und ich glaube, dass eine sehr große Menge an Sprachphilosophen, Semiotikern und Schriftsetzern (unter anderem) daran beteiligt waren, dieses System aufzubauen.

Das mag verwirrend klingen, weil es verwirrend ist. Die eine Frage, die hilft, aus dem Labyrinth zu entkommen (zumindest zeitweise) ist: für wen wurde das Buch (oder der Zeitungsartikel, das Gedicht etc.) geschrieben und warum. Zwar klingt diese Fragestellung ähnlich wie das Thema in der Schule „Was ist die Intention des Autors?“ aber sie könnte gar nicht verschiedener sein. Denn es gibt zumeist eine vorgegaukelte Intention, hinter die man erst blicken muss.

Hinzu kommt allerdings noch, dass das Unterbewusstsein nicht unterscheiden kann zwischen Fiktion und Fakt. Stimmungsbetonte Ideen sickern in diesen Teil des Bewusstseins ungefiltert ein und können sogar gesundheitsgefährdenden Schaden anrichten. Eigentlich ist das klar, wenn man bedenkt, dass der Tagesverstand nicht zuständig ist für den Atemrhythmus oder Hormonausschüttungen. Mir scheint, dass Charles Baudelaire sehr Ähnliches thematisiert im Einleitungsgedicht zu seinen Blumen des Bösen „An den Leser“ (gut, was er NOCH damit sagen wollte, bleibt vielleicht sein Geheimnis).

Das sind die zahlreichen Schleier der Isis, könnte man sagen.

Aus: Blumen des Bösen

An den Leser

Von Charles Baudelaire

In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
Versinken wir mit Seele und mit Leib,
Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

Halb sind die Sünden, matt ist unsre Reue,
Und unsre Beichte macht sich fett bezahlt,
Nach ein paar Tränen rein die Seele strahlt
Und wandert froh den schmutzigen Pfad aufs neue.

Satan, der Dreimalgrosse, übt die Künste,
Auf seinem Kissen wiegt er unsern Geist,
Bis das Metall, das Kraft und Wille heisst,
Vom Zaubrer aufgelöst in fahle Dünste.

Des Teufels Fäden sind’s, die uns bewegen,
Wir lieben Graun, berauschen uns im Sumpf,
Und Tag für Tag zerrt willenlos und stumpf
Der Böse uns der Hölle Stank entgegen.

Wie an der Brust gealterter Mätressen
Der arme Wüstling stillt die tolle Gier,
So haschen nach geheimen Lüsten wir,
Um sie wie dürre Früchte auszupressen.

Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen
Die Teufelsschar, die uns zerstören muss,
Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss,
Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.

Wenn Notzucht, Gift und Dolch und alles Böse
Noch nicht geschmückt mit holder Stickerei
Des Schicksals Grund voll fadem Einerlei,
Dann ist’s, weil unsre Seele ohne Grösse.

Doch zwischen Panthern, Schakalen und Hunden,
In der Skorpionen, Schlangen, Affen Welt,
Die kriecht und schleicht und heult und kläfft und bellt,
Im Tierhaus unsrer Laster ward gefunden.

Das schlimmste, schmutzigste von allen Dingen,
Die Qual, die nicht Gebärde hat noch Schrei,
Und doch die Erde macht zur Wüstenei
Und gähnend wird dereinst die Welt verschlingen:

Der Überdruss! – Tränen im Blick, dem bleichen,
Träumt vom Schafott er bei der Pfeife Rauch.
Du, Leser, kennst das holde Untier auch,
Heuchelnder Leser – Bruder –: meinesgleichen!

(in der Übersetzung von Therese Robinson, 15. November 1873 in Darmstadt; gestorben am 17. Februar 1945 in Malmö)

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