Essay

‚Zola‘ von Louis-Ferdinand Céline

Hommage an Zola (1933)

Deutsch von Lizzie Siddal

Die Menschen sind Todesmystiker, vor denen man sich in Acht nehmen muss.

Denkt man an Zola, bleibt man etwas peinlich berührt vor seinem Werk stehen; er ist uns noch zu nah, wir können ihn noch nicht gut genug beurteilen, in seinen Absichten, meine ich. Er spricht von Dingen, die uns sehr bekannt sind… Es wäre angenehmer, wenn sie sich ein wenig geändert hätten.

Man erlaube eine kleine persönliche Erinnerung. In der Weltausstellung von 1900 war man noch sehr jung, aber man hat die lebhafte Erinnerung behalten, dass es eine große Brutalität war. Füße vor allem, Füße überall und Staub in Wolken, die so schwer waren, dass man sie berühren konnte. Nicht enden wollende Menschenmengen defilierten, trampelten, zermalmten die Ausstellung und dann dieser rollende Fußweg, der bis zu der Galerie der Maschinen knarrte, die zum ersten Mal voll war von gefolterten Metallen, kolossalen Bedrohungen und Katastrophen in der Schwebe. Das moderne Leben begann.

Seit dem haben wir es nicht besser gemacht. Nach Der Totschläger haben wir es auch nicht besser gemacht. Die Dinge sind gleich geblieben, mit einigen wenigen Varianten. Hat er, Zola, zu gut gearbeitet für seine Nachfolger? Oder haben die Neuankömmlinge Angst vor dem Naturalismus gehabt? Vielleicht…

Heute wird der Naturalismus von Zola (mit den Mitteln, die wir haben, um an Informationen zu kommen) fast unmöglich. Man würde erst gar nicht mehr aus dem Gefängnis herauskommen, wenn man das Leben erzählen würde, wie man es kennt, mit dem eigenen Leben angefangen. Damit will ich sagen, wie man es seit zwanzig Jahren versteht. Schon Zola hat einiges Heldentum nötig gehabt, um den Menschen seiner Zeit einige heitere Gemälde der Wirklichkeit zu zeigen. Die heutige Wirklichkeit wäre niemandem erlaubt. Für uns sind daher die Symbole und die Träume! Alle Übertragungen, die das Gesetz nicht erreicht, noch nicht erreicht! Denn schließlich sind es die Symbole und die Träume, in denen wir neun Zehntel unseres Lebens verbringen, denn die neun Zehntel des eigentlichen Lebens, das heißt der Lebenslust, sind uns unbekannt oder verboten. Eines schönen Tages jedoch, werden auch die Träume verfolgt werden. Eine Diktatur steht uns bevor.

Die Stellung des Menschen inmitten seines Plunders von Gesetzen, Bräuchen, Wünschen, verknoteten, verdrängten Instinkten ist so gefährlich geworden, so künstlich, so willkürlich, so tragisch und so grotesk zur gleichen Zeit, dass die Literatur noch nie wie heute so einfach zu ersinnen war, aber noch nie so schwer zu ertragen. Wir sind überall umstellt von Ländern voller anaphylaktischer Knallköpfe; der kleinste Schock kann bei ihnen mörderische Konvulsionen ohne Ende auslösen.

Jetzt sind wir an das Ende gelangt von zwanzig Jahrhunderten hoher Zivilisation, jedoch sind in keinem Regime zwei Wörter der Wahrheit übrig geblieben. Ich meine, die marxistische Gesellschaft genau so wie unsere bürgerlichen und faschistischen Gesellschaften.

Der Mensch kann tatsächlich nicht überstehen in gleich welcher dieser vollständig brutalen und masochistischen Sozialgefüge, ohne die Gewalt einer permanenten und von Mal zu Mal massiveren Lüge, einer ständig wiederholten, rasenden, „totalitären“, wie man sie nennt. Ohne diesen Zwang würden unsere Gesellschaften in die schlimmste Anarchie zusammenbrechen. Hitler ist nicht das letzte Wort, wir werden noch epileptischere sehen, vielleicht hier bei uns. Unter solchen Bedingungen wird der Naturalismus politisch, ob er will oder nicht. Man bringt ihn zur Strecke. Wie glücklich waren jene, die das Pferd von Caligula beherrschten!

Das diktatorische Gebrüll geht hinaus zu den Unzähligen, die vom Spuk der Nahrung geplagt sind, der Monotonie der täglichen Aufgaben oder des Alkohols, die Myriaden von Verdrängten; all das ist vergipst in einem übergroßen sado-masochistischen Narzissmus, alles kommt aus Nachforschung, aus Erfahrungen und sozialer Ehrlichkeit. Man spricht mir oft von der Jugend, das Übel ist aber tiefer als die Jugend! An Jugend sehe ich tatsächlich nichts als einen aperitiven Elan, sportliche und automobilistische Begeisterung, Lust an Spektakeln, aber nichts Neues. Zumindest was die Ideen betrifft, hinken die Jungen den geschwätzigen, geldgierigen, mörderischen R.A.T.-Zertifizierten hinterher. Um in dem Punkt gerecht zu bleiben, stellen wir fest, dass die Jugend nicht mehr existiert, in dem romantischen Sinn, den wir diesem Wort noch verleihen. Ab dem Alter von zehn Jahren scheint das Schicksal des Menschen mehr oder weniger festgelegt, zumindest im Bereich der Empfindsamkeit; nach dieser Zeit besteht unser Dasein nur noch in faden, unnötigen Wiederholungen, die von Mal zu Mal unehrlicher und theatralischer werden.

Vielleicht erleiden alle „Zivilisationen“ letztendlich das gleiche Los? Unsere scheint jedenfalls in einer unheilbaren kriegerischen Psychose stecken geblieben. Wir leben nur noch für diese Art von zerstörerischer Dauerschleife. Betrachten wir die ranzigen Vorurteile und verdorbenen Nichtigkeiten, an welchen sich der absolute Fanatismus von Millionen angeblich entwickelter Individuen berauschen kann, die an den besten Schulen Europas ausgebildet wurden, sind wir durchaus befugt, uns zu fragen, ob der Todesinstinkt des Menschen in seinen Gesellschaften nicht schon längst klar über den Lebensinstinkt gesiegt hat. Deutsche, Franzosen, Chinesen, Walachen. Mit oder ohne Diktatur. Alles nur Ausreden, um den Tod zu spielen.

Emile Zola von Edouard Manet

Es wäre mir recht, alles zu erklären mit den bösartigen Verteidigungreaktionen des Kapitalismus oder der extremen Not. Aber die Dinge sind weder so einfach, noch so abwägbar. Weder die tiefe Not, noch die polizeiliche Belastung, rechtfertigen das Massenfieber der extremen, aggressiven, ekstatischen Nationalismen ganzer Länder. Natürlich kann man den von vorneherein überzeugten Parteigängern die Dinge so erklären, den gleichen, denen man vor zwölf Monaten noch erklärt hat, dass der unausweichliche Triumph des Kommunismus in Deutschland kurz bevor stünde. Aber die Lust an Kriegen und Massakern könnte als eigentlichen Ursprung nur den Appetit auf Eroberung, Macht und den Vorteil der führenden Klassen haben. Man hat alles gesagt, aktenkundig gemacht und dargelegt und es hat niemanden abgestoßen. Der heutige einhellige Sadismus stammt vor allem aus einem im Menschen tief verankerten Wunsch nach Nichtsein und vor allem in den Menschenmassen, als eine Art unwiderstehliche, verliebte, gemeinschaftliche Ungeduld auf den Tod. Mit Koketterien, versteht sich, tausend Verleugnungen: der Tropismus ist trotzdem da und er ist umso mächtiger, da er vollkommen geheim und verschwiegen ist.

So haben die Regierungen die alten Gewohnheiten ihrer finsteren Völker übernommen, sie haben sich ihnen sehr gut angepasst. In ihrer Psychologie befürchten sie jede Änderung. Sie wollen nur den Hampelmann, den Auftragskiller, das maßgeschneiderte Opfer. Liberale, Marxisten, Faschisten sind sich nur in einem einig: Soldaten! Und nicht mehr und nicht weniger. In Wirklichkeit hätten sie keine Ahnung, was zu tun wäre mit wahrhaft pazifistischen Völkern…

Wenn unsere Meister zu dieser stillschweigenden Übereinkunft gelangt sind, dann ist es vielleicht so, dass sich die menschliche Seele letztlich klar in diese selbstmörderische Form kristallisiert hat.

Man kann von einem Tier alles erlangen durch Sanftheit und Vernunft, während die großen Begeisterungen der Massen, der langanhaltende Rausch der Mengen, fast immer ausgelöst und angeregt werden durch Dummheit und Brutalität. Zola musste keineswegs den gleichen sozialen Problemen in seinem Werk gegenüber treten, vor allem unter der jetzigen despotischen Form. Der wissenschaftliche Glaube war damals noch neu und gab den Schriftstellern seiner Zeit den Eindruck, dass es Gründe gäbe ‚optimistisch‘ zu sein. Zola glaubte an die Tugend, er gedachte, den Schuldigen einen Schrecken einjagen, wollte sie aber nicht zur Verzweiflung bringen. Wir wissen heute, dass das Opfer wieder und wieder nach einem Märtyrer ruft. Haben wir in unseren heutigen Schriften – jenseits der Einfältigkeit – noch das Recht, von irgend einer Art von Vorsehung zu sprechen? Man müsste schon über einen robusten Glauben verfügen. Alles wird tragischer und unabänderlicher, je tiefer man in das Schicksal des Menschen eindringt. Hört man auf, sich den Menschen vorzustellen und beginnt man, ihn zu erleben, wie er wirklich ist… Da entdeckt man ihn. Man will es noch nicht zugeben. Wenn unsere Musik sich ins Tragische wendet, dann hat sie ihre Gründe dafür. Unsere Wörter von heute, ebenso wie unsere Musik, gehen weiter als zu Zolas Zeiten. Wir arbeiten gegenwärtig durch die Empfindsamkeit und nicht durch die Analyse, aus dem Inneren, kann man sagen. Unsere Wörter reichen bis in die Instinkte und berühren sie manchmal, aber wir haben zugleich gelernt, dass dort unsere Macht endet, und zwar für immer.

Unser eigener Coupeau trinkt nicht mehr so viel wie der Erste. Er deliriert dennoch weit mehr. Sein Delirium ist ein Großraumbüro mit dreizehn Telefonen. Er gibt der Welt Befehle. Er mag die Damen nicht. Er ist auch rechtschaffen. Man gibt ihm die höchsten Auszeichnungen.

Im Spiel des Menschen, hat sich der Todesinstinkt, der verschwiegene Instinkt, vielleicht sehr gut neben den Egoismus platziert. Er hat den Platz der Null im Roulette. Das Kasino gewinnt immer. Der Tod auch. Das Gesetz der hohen Zahlen arbeitet dafür. Das ist ein Gesetz ohne Fehl. Was wir auch unternehmen mögen, entweder so oder anders, stößt sich an ihm und wendet sich zum Hass, zum Düsteren, zum Lächerlichen. Man müsste eine äußerst sonderbare Begabung haben, um von anderem als dem Tod zu sprechen, in Zeiten wie heute, wo auf der Erde, auf den Wassern und in der Luft von sonst nichts die Rede ist. Ich weiß, dass man noch auf dem Friedhof Musette tanzen oder im Schlachthaus von der Liebe sprechen kann, der Autor von Komödien behält seine Möglichkeiten, aber es ist eine Verlegenheitslösung.

Wenn wir in der Zukunft normal sein werden, ganz so wie unsere Zivilisationen es verstehen, es wünschen und bald verlangen, dann enden wir, denke ich, damit, dass wir ganz und gar in Bösartigkeit ausbrechen. Als einzige Zerstreuung werden sie uns den Zerstörungsinstinkt lassen. Diesen kultiviert man seit der Schulzeit und pflegt ihn während der ganzen Dauer des sogenannten Lebens. Neun Zeilen Verbrechen und eine Zeile Langeweile. Wir werden alle im Chor untergehen, mit Vergnügen insgesamt, in einer Welt, die wir fünfzig Jahrhunderte in den Stacheldraht der Einschränkungen und der Angst eingefasst haben.

Vielleicht ist es einfach Zeit, Zola gebührend zu ehren, am Vorabend eines riesigen Zusammenbruchs, eines weiteren. Es kann nicht mehr darum gehen, ihn nachzuahmen oder ihm zu folgen. Wir haben offensichtlich weder die Gabe, noch die Kraft, noch den Glauben, die nötig sind, um die großen Seelenbewegungen zu erschaffen. Hätte er denn seinerseits die Kraft gehabt, über uns zu urteilen? Seit er gegangen ist, haben wir ganz schön seltsame Dinge über die Seelen erfahren.

Der Menschenweg ist eine Einbahnstraße, der Tod hält Einzug in alle Cafés, es ist ein Schafkopfspiel „aufs Blut“, das uns anzieht und nicht mehr loslässt.

Das Werk von Zola ist für uns in mancherlei Hinsicht wie das Werk von Pasteur, so dicht und immer noch so lebendig, in zwei oder drei Punkten grundlegend. Bei diesen beiden Männern finden wir, transponiert, die gleiche, peinlich genaue Technik der Schöpfung, die gleiche Sorge um experimentelle Aufrichtigkeit und vor allem diese verblüffende Fähigkeit der Demonstration, die bei Zola episch wurde. Es brauchte viel Liberalismus, um die Dreyfus-Affäre zu ertragen. Wir sind von diesen Zeiten weit weg, trotz aller Akademien.

Manchen Traditionen folgend, sollte ich diese kleine Arbeit vielleicht mit einem Ton des guten Willens und der Zuversicht abschließen. Aber was können wir vom Naturalismus erhoffen in den Bedingungen, die uns umgeben? Alles und nichts. Eher nichts, da die geistigen Konflikte die Masse von heute in zu größer Nähe zu sehr ärgern, um länger toleriert zu werden. Der Zweifel verschwindet gerade aus dieser Welt. Man bringt ihn zeitgleich um, mit den Menschen, die ihn in sich tragen. Das ist sicherer.

Wenn ich in meinem Umfeld das Wort „Geist“ höre, spucke ich auf den Boden! Das teilte uns einer aktueller Diktator mit, der genau dafür angehimmelt wird. Man kann sich nur fragen, was dieser Unter-Gorilla tun würde, wenn man ihm vom „Naturalismus“ spräche.

Seit Zola ist der Albtraum, der den Menschen umgab, nicht nur genau, sondern auch offiziell geworden. Ebenso wie unsere „Götter“ mehr Macht erlangen, werden sie auch grausamer, eifersüchtiger und dümmer. Sie organisieren sich. Was soll man ihnen sagen? Man kann sich nicht mehr verständigen.

Die naturalistische Schule wird ihre Aufgabe erledigt haben, denke ich, sobald sie in allen Ländern der Welt verboten sein wird.

Das ist ihr Schicksal.

Eine kleine Theorie der Fiktion

Fiktion besteht darin, dass man glaubt, dass das Beschriebene erfunden ist, Fakten bestehen darin, dass man sie für wirklich hält. Beidem gemeinsam ist, dass man das eine oder das andere glaubt. Selbst, wenn sich jemand vornimmt, vollkommen ehrlich zu sein, ist es fraglich, ob er die Zusammenhänge, Ursache und Folge und so weiter begriffen hat. Oder wenn jemand vorsätzlich lügt, dann kann es passieren, dass er es beispielsweise durch den Blick seiner Augen verrät. Oder er belügt jemanden, der mehr weiß als er selbst und ist hierdurch erfolglos. Viele denken, es gäbe einen „rein intellektuellen“ Inhalt von Aussagen, den man („in vitro“) prüfen könne, ohne die Absichten des Sprechenden mit einzubeziehen.

Dieser Irrglaube ist an Universitäten sehr verbreitet, denn viele leugnen, dass bezahlte Lehrstühle zu bezahlten Lehrmeinungen führen.

Warum sollte jemand dafür zahlen, dass ein Anderer Meinungen verbreitet? Die öffentliche Meinung zum Beispiel ist eigentlich eine Fiktion und sie wird nur dadurch aufrechterhalten, dass so viele sie für echt halten und glauben, dass an jeder Straßenecke das Gespräch stattfindet, das im Fernsehen simuliert wird. Gebildetere Menschen hingegen vermuten, dass beim Abendessen andere Gebildete das sprechen, was angeblich zwischen Philosophen besprochen wird.

Wenn in den Zeitungen steht, dass die aktuelle Wirtschaftlage zur Inflation führen muss und dass der einzige Rettungsanker im Kauf von Gold besteht, dann werden das wieder viele glauben und gar nicht vermuten, dass der Grund für die ganze Inflationspropaganda darin liegt, dass die eigentlichen Akteure am Markt, die mehr Gold haben als sich Herr Huber überhaupt vorstellen kann, eigentlich verkaufen wollen und dies zu einem möglichst hohen Preis. Wenn diese Akteure dann verkauft haben, wird sich der Preis freilich wieder „stabilisieren“ und die „Goldblase“ platzt. Und wieder werfen alle die Hände über den Kopf und sagen, dass diese Spekulationsexzesse ihr natürliches Ende gefunden haben! 

Wahre Spiegel- oder Süddeutscheleser würden ihre Hand ins Feuer legen für das, was dort publiziert wird und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie sich den Bildlesern so überlegen fühlen. Und ich glaube, dass eine sehr große Menge an Sprachphilosophen, Semiotikern und Schriftsetzern (unter anderem) daran beteiligt waren, dieses System aufzubauen.

Das mag verwirrend klingen, weil es verwirrend ist. Die eine Frage, die hilft, aus dem Labyrinth zu entkommen (zumindest zeitweise) ist: für wen wurde das Buch (oder der Zeitungsartikel, das Gedicht etc.) geschrieben und warum. Zwar klingt diese Fragestellung ähnlich wie das Thema in der Schule „Was ist die Intention des Autors?“ aber sie könnte gar nicht verschiedener sein. Denn es gibt zumeist eine vorgegaukelte Intention, hinter die man erst blicken muss.

Hinzu kommt allerdings noch, dass das Unterbewusstsein nicht unterscheiden kann zwischen Fiktion und Fakt. Stimmungsbetonte Ideen sickern in diesen Teil des Bewusstseins ungefiltert ein und können sogar gesundheitsgefährdenden Schaden anrichten. Eigentlich ist das klar, wenn man bedenkt, dass der Tagesverstand nicht zuständig ist für den Atemrhythmus oder Hormonausschüttungen. Mir scheint, dass Charles Baudelaire sehr Ähnliches thematisiert im Einleitungsgedicht zu seinen Blumen des Bösen „An den Leser“ (gut, was er NOCH damit sagen wollte, bleibt vielleicht sein Geheimnis).

Das sind die zahlreichen Schleier der Isis, könnte man sagen.

Aus: Blumen des Bösen

An den Leser

Von Charles Baudelaire

In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
Versinken wir mit Seele und mit Leib,
Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

Halb sind die Sünden, matt ist unsre Reue,
Und unsre Beichte macht sich fett bezahlt,
Nach ein paar Tränen rein die Seele strahlt
Und wandert froh den schmutzigen Pfad aufs neue.

Satan, der Dreimalgrosse, übt die Künste,
Auf seinem Kissen wiegt er unsern Geist,
Bis das Metall, das Kraft und Wille heisst,
Vom Zaubrer aufgelöst in fahle Dünste.

Des Teufels Fäden sind’s, die uns bewegen,
Wir lieben Graun, berauschen uns im Sumpf,
Und Tag für Tag zerrt willenlos und stumpf
Der Böse uns der Hölle Stank entgegen.

Wie an der Brust gealterter Mätressen
Der arme Wüstling stillt die tolle Gier,
So haschen nach geheimen Lüsten wir,
Um sie wie dürre Früchte auszupressen.

Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen
Die Teufelsschar, die uns zerstören muss,
Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss,
Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.

Wenn Notzucht, Gift und Dolch und alles Böse
Noch nicht geschmückt mit holder Stickerei
Des Schicksals Grund voll fadem Einerlei,
Dann ist’s, weil unsre Seele ohne Grösse.

Doch zwischen Panthern, Schakalen und Hunden,
In der Skorpionen, Schlangen, Affen Welt,
Die kriecht und schleicht und heult und kläfft und bellt,
Im Tierhaus unsrer Laster ward gefunden.

Das schlimmste, schmutzigste von allen Dingen,
Die Qual, die nicht Gebärde hat noch Schrei,
Und doch die Erde macht zur Wüstenei
Und gähnend wird dereinst die Welt verschlingen:

Der Überdruss! – Tränen im Blick, dem bleichen,
Träumt vom Schafott er bei der Pfeife Rauch.
Du, Leser, kennst das holde Untier auch,
Heuchelnder Leser – Bruder –: meinesgleichen!

(in der Übersetzung von Therese Robinson, 15. November 1873 in Darmstadt; gestorben am 17. Februar 1945 in Malmö)

Das Bedenkliche denken und Heidegger lesen

1. Sprache der Tiere und der Menschen

Wenn man Vögel beobachtet und ihnen zuhört, wie sie mit ihren Lauten ihr Innen- und Außenleben bedeuten, wird man feststellen, dass sie nie ein ‚Wort‘ zwei Mal verwenden. Sie haben keine Wörter in dem Sinne, auch wenn sie immer wieder von den gleichen ‚Dingen‘ oder Wesen sprechen. Sie legen die aktuellste ihrer Emotionen ohne einen Moment des Überlegens (das Überlegen passiert laufend im Hintergrund und kulminiert beispielsweise in einer Warnung), ohne Übergang in ihren Ton, was man auch in ihren Augen sehen kann. Dies nehmen sie aus ihrer Lebensintensität, die immer vorhanden ist, egal ob sie sich angstvoll in einem Busch vor einem Sturm verstecken oder sich der Nachdenklichkeit hingeben, eine leise Melodie hervorzubringen, die sie noch nie gehört haben. Auch in der Schläfrigkeit sind sie ‚ganz‘ schläfrig.

Sie wenden die Intensität nicht an, um zu beeindrucken, sondern im Falle einer Warnung beeindrucken sie, WEIL sie versuchen, eine Gefahr so klar wie möglich zu bedeuten.

Sie üben diese Kommunikationstechniken in ihren Leben so gut ein, dass ihr Verständnis für einander oft für uns aussieht wie Hellsichtigkeit. Und das ist es für uns auch, denn wie würdest du das finden, lieber Leser, wenn ich zum Fenster einmal Koffer sage, dann Tablette und danach Wasserbett. Du würdest anfangen, mich zu korrigieren, obwohl ich eine Methode anwende, die seit Millionen von Jahren funktioniert. Der Punkt ist nur der, dass man sich dabei nicht verstellen darf.

Das Gegenteil davon wäre eine Diva aus Hollywood, die wie ein Schluck Wasser in der Kurve zu Hause herumhängt, um sich dann plötzlich aufzubrezeln und auf die Straße zu stürmen, um sich dort zwei Stunden lang fotografieren zu lassen mit einem Pappbecher in einer Hand und einem Handy oder kleinen Hund in der anderen. Die Betrachter ihrer Fotos werden dann vermutlich sagen (weil sie das schon oft gehört haben und eigentlich nie etwas Urtümliches, Eigenes denken): „Naja, mir gefällt das auch nicht, was sie macht, aber ich finde, sie verkauft sich gut!“

„Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muss in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muss, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen, auf die Gefahr, dass er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wieder geschenkt.“

M. Heidegger, Über den Humanismus

Das Namenlose muss natürlich kein ‚Nirvana‘ sein oder ein theoretisches Nichts. Eben gerade die Vögel haben einen ausgeprägten Sinn für Musik und laut Ezra Pound (Guide to Kulchur) ist der vorrangige Sinn von Musik:

Die Zauberkraft der Musik liegt in ihrer Wirkung auf den Willen. Eine plötzliche Räumung des Geistes vom Gerümpel und die Wiedererschaffung eines Sinns für Proportion.

Bei uns heutigen Menschen sind die Wörter so sehr mit (häufig falschen) Bedeutungen überfrachtet, dass wir unter ihnen zusammenbrechen. Wie alle echten und tiefen Probleme, ist dieses Problem sehr alt, wir sehen es nur in neuen Gewändern und meinen, es wäre neu, nur weil wir es zum ersten Mal entdecken.

Goethe im Faust I:

MEPHISTOPHELES.
(…)
Im ganzen – haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.

SCHÜLER.
Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.

MEPHISTOPHELES.
Schon gut!
Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Um zwei Beispiele zu geben. Ich denke, dass das Wort ‚Querdenken‘ von vorne herein verfehlt war. Die Einzigen, die es notwendig finden, Labels an ‚Dinge‘ zu heften, sind die Werbefritzen mit ihren Slogans. Dass sich eine Gruppe von Menschen als Querdenker bezeichnet, hat nur dazu geführt, dass andere Menschen zu einander Dinge sagen wie: „Haben die Querdenker eigentlich eine eigene Partei? Ach so, sie haben ja die AfD.“

Es kommt in unserer Zeit dabei gewohnheitsmäßig so weit, dass das bedeutungsüberfrachtete Wort wichtiger wird als sein Sinn, so wichtig, dass es geradezu den Sinn negiert.

„Sie fragen: Comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘? Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort ‚Humanismus‘ festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug? Man misstraut zwar schon lange den ‚-ismen‘. Aber der Markt des öffentlichen Meinens verlangt stets neue. Man ist immer wieder bereit, diesen Bedarf zu decken. (…) 

Die Herrschaft solcher Titel ist nicht zufällig. Sie beruht, und das vor allem in der Neuzeit, auf der eigentümlichen Diktatur der Öffentlichkeit. (…) 

Darum gerät die Sprache in den Dienst des Vermittelns der Verkehrswege, auf denen sich die Vergegenständlichung als die gleichförmige Zugänglichkeit Allem für Alle unter Missachtung jeder Grenze ausbreitet. So kommt die Sprache unter die Diktatur der Öffentlichkeit. Diese entscheidet im voraus, was verständlich ist und was als unverständlich verworfen werden muss.

M. Heidegger, Über den Humanismus

Ein anderes Beispiel wäre, dass wir Heutigen uns wirklich fragen müssen, ob Viren überhaupt als Krankheitserreger existieren. Wenn dem nämlich nicht so wäre, müssten wir alle anderen Wörter hinterfragen, die wir sonst auch verwenden. Z.B. das Wort Immunsystem. Das Wort bedeutet mehr als wir wissen. Es impliziert auf so eine vage Weise so viel, dass man es eigentlich weglegen muss und lieber Wörter finden sollte, die auf der eigenen Erfahrung beruhen.

Ein Gedankengebäude oder Haus der Sprache, darf nicht zusammenbrechen, wenn man ein Wort entfernt und durch ein anderes ersetzt. Ein gutes Haus besteht nicht durch eine einzelne Annahme, es ist an so vielen Stellen mit der Wirklichkeit, mit dem Boden und ist sich selbst so stabil, dass man es auch renovieren könnte.

Ich habe einmal gehört, wie ein Schulkind zum anderen auf dem Heimweg sagte: „Als die D-Mark noch war, da hat ein Brot tausend Euro gekostet.“

Ich konnte mich an eine solche Zeit nicht erinnern. Ich vermutete, dass sie in der Schule etwas über ‚Inflation‘ gelernt haben, aber nicht darüber natürlich, dass man vollkommen verschiedene Phänomene einfach als ‚Inflation‘ bezeichnen kann, obwohl in einer Situation Inflation als unzulässige Erhöhung der Geldmenge (aber nicht der Produktion) gegeben ist, während andere Preissteigerungen einfach durch Monopolmacht beschlossen sein können, sich aber durch ein solches Wort gut tarnen.

Denn manche erachten die Wörter als ihre Untertanen und gehen mit ihnen um, wie es ihnen gerade passt, während die anderen wichtig klingende Wörter als ihre Vorgesetzten betrachten, die sie nie hinreichend verstehen können, dieses Unvermögen aber tunlichst verbergen.

2. Was heißt Denken?

Die Herrschaft der Wissenschaft und der Technik sind viel mehr als George Orwell in seinen Albtraum-Visionen vom Überwachungsstaat gesehen hat. (Auch ‚Überwachungsstaat‘ ist eines jener übermächtigen Wörter, die mehr Bedeutung vorgeben, als ihnen wahres Wissen und genaues Verständnis zugrunde liegt.)

Die Abschaffung des Denkens passiert dadurch, dass niemand es mehr lernt. Da das Denken dem Menschen aber nahe steht als sein natürliches Erbe, aber nicht mehr erreichbar ist, will Heidegger hier zeigen, wie der Sprung in das andere Element, welches das Denken ist, zu bewerkstelligen ist und wie man sich darin bewegen kann. Niemand bewegt sich an der Luft gleich wie im Wasser, es sind verschiedene Dichten, Widerstände und Möglichkeiten sich fortzustoßen und sich darin zu schlängeln.

Ich greife einige der schönsten Zitate aus diesem bemerkenswerten Vortrag heraus:

Als das vernünftige Lebewesen muß der Mensch denken können, wenn er nur will. Indes will der Mensch vielleicht denken und kann es doch nicht. Am Ende will er bei diesem Denkenwollen zu viel und kann deshalb zu wenig. Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat. Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen. Denn wir vermögen nur das, was wir mögen. Aber wir mögen wiederum wahrhaft nur Jenes, was seinerseits uns selber und zwar uns in unserem Wesen mag, indem es sich unserem Wesen als das zuspricht, was uns im Wesen hält. Halten heißt eigentlich hüten, auf dem Weideland weiden lassen. Was uns in unserem Wesen hält, hält uns jedoch nur so lange, als wir selber von uns her das Haltende be-halten. Wir be-halten es, wenn wir es nicht aus dem Gedächtnis lassen. Das Gedächtnis ist die Versammlung des Denkens.

(…)

Unsere Sprache nennt z.B. das, was zum Wesen des Freundes gehört, das Freundliche. Dementsprechend nennen wir jetzt das, was in sich das zu-Bedenkende ist: das Bedenkliche. Alles Bedenkliche gibt zu denken. Aber es gibt diese Gabe immer nur insoweit, als das Bedenkliche von sich her schon das zu-Bedenkende ist. Wir nennen jetzt und in der Folge dasjenige, was stets, weil einsther und allem voraus, zu bedenken bleibt: das Bedenklichste. Was ist das Bedenklichste? Wie zeigt es sich in unserer bedenklichen Zeit? Das Bedenklichste ist, daß wir noch nicht denken; immer noch nicht, obgleich der Weltzustand fortgesetzt bedenklicher wird.

(…)

Dieser Vorgang scheint freilich eher zu fordern, daß der Mensch handelt und zwar ohne Verzug, statt in Konferenzen und auf Kongressen zu reden und sich im bloßen Vorstellen dessen zu bewegen, was sein sollte und wie es gemacht werden müßte. Somit fehlt es am Handeln und keineswegs am Denken. Und dennoch — vielleicht hat der bisherige Mensch seit Jahrhunderten bereits zu viel gehandelt und zu wenig gedacht.

(…)

Daß wir noch nicht denken, kommt vielmehr daher, daß dieses zu-Denkende selbst sich vom Menschen abwendet, langher schon abgewendet hat.

(…)

Es wird gut sein, wenn wir möglichst lange in solcher Abwehrhaltung zu dem Gesagten ausharren; denn so allein halten wir uns in dem nötigen Abstand für einen Anlauf, aus dem her vielleicht dem einen oder anderen der Sprung in das Denken gelingt. Es ist nämlich wahr, daß das bisher Gesagte und die ganze folgende Erörterung mit Wissenschaft nichts zu tun hat, gerade dann, wenn die Erörterung ein Denken sein dürfte. Der Grund dieses Sachverhaltes liegt darin, daß die Wissenschaft ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges.

(…)

Wir sagten: der Mensch denkt noch nicht und zwar deshalb nicht, weil das zu-Denkende sich von ihm abwendet; er denkt keineswegs nur darum nicht, weil der Mensch sich dem zu-Denkenden nicht hinreichend zu-wendet. Das zu-Denkende wendet sich vom Menschen ab. Es entzieht sich ihm. Doch wie können wir von Solchem, das sich einsther entzieht, überhaupt das Geringste wissen oder es auch nur nennen? Was sich entzieht, versagt die Ankunft. Allein — das Sichentziehen ist nicht nichts. Entzug ist Ereignis. Was sich entzieht, kann sogar den Menschen wesentlicher angehen und in den Anspruch nehmen als alles Anwesende, das ihn trifft und betrifft. Die Betroffenheit durch das Wirkliche hält man gern für das, was die Wirklichkeit des Wirklichen ausmacht. Aber die Betroffenheit durch das Wirkliche kann den Menschen gerade gegen das absperren, was ihn angeht, angeht in der gewiß rätselhaften Weise, daß das Angehende ihm entgeht, indem es sich entzieht. Der Entzug, das sich Entziehen des zu Denkenden könnte darum jetzt als Ereignis gegenwärtiger sein, denn alles Aktuelle.

(…)

Was sich uns in der genannten Weise entzieht, zieht zwar von uns weg, aber es zieht uns dabei gerade mit und zieht uns auf seine Weise an. Was sich entzieht, scheint völlig abwesend zu sein. Aber dieser Schein trügt. Was sich entzieht, west an, nämlich in der Weise, dass es uns anzieht, ob wir es sogleich oder überhaupt merken oder nicht. Was uns anzieht, hat schon Ankunft gewährt.

 

Ich empfehle dem Leser folgenden Text sehr genau zu hören und selbst nachzudenken, was seine angemessene Geschwindigkeit ist, seine Dichte, seine Bewegung: