Als ich mich umdrehte, war das Schloss immer noch da. Das wunderte mich nicht besonders, denn das Schloss war mir schon seit Tagen gefolgt.
Als Münchnerin philosophiere ich am liebsten im Nymphenburger Park. Ich gerate in eine Trance der Nachdenklichkeit, während meine Schritte und meine Gedanken sich gemeinsam entwickeln – Gehen und Nachdenken, das ist so ähnlich, wie Schreiben und Nachdenken. Aber Gehen und Denken sind nie dasselbe, sie treten nur gern gemeinsam und gleichzeitig auf.
Das Regenwetterlicht machte mich melancholisch und verlieh der Atmosphäre etwas von Größe und stiller Gewalt. Ich erinnere mich noch, wie das Schloss zu leuchten begann, als ich gerade über das Denken nachdachte und seine Rolle in der Welt. Meine mailändischen Schuhe (in Wirklichkeit hatte Thailand sie hervorgebracht) begannen zu drücken und ich erkannte die Notwendigkeit zu verreisen. In der Tram sah ich diesen Umstand noch deutlicher und als ich an den Gärtnerplatz gelangte, hatte ich einen Plan. Paris. Pläne schmieden raubt meine ganze Aufmerksamkeit und so muss mir entgangen sein, dass mich das Schloss verfolgte – vielleicht aus Reiselust, ich weiß es wirklich nicht. Das Schloss verfolgte mich wie ein hungriges Tier, eines, das mich auffressen wollte oder eines, das mich als Nahrungsspender auserkoren hatte. Immer wenn ich mich umdrehte, stand es da und tat so, als hätte es immer dort gestanden.
In Paris habe ich versucht, mit dem Schloss Kontakt aufzunehmen, doch es schwieg beharrlich. Ich fragte es, ob es sich vielleicht den Spaß erlaubte, mich in den Wahnsinn zu treiben oder zu verblüffen, doch das Schloss stand still und fest, mit Regengewalt. Denn das Wetter verfolgte mich gleichfalls. „Sei´s drum“, dachte ich, „es wird schon aufgeben, früher oder später.“ Manchmal beunruhigte es mich. Manchmal versteckte sich das Schloss, um wieder aufzutauchen, dann musste ich fast lächeln und sagte zu mir: „Gut, dann habe ich eben ein Schloss. Zwar nicht auf die Art, wie ich es gerne hätte, aber immerhin, besser ein folgsames Schloss, in dem es sich nicht wohnen lässt, als keins.“
Ich hatte noch genug Geld, aber ich wollte nicht in Paris bleiben. Eigentlich hatte ich nur noch den Wunsch, das Schloss loszuwerden. Denn so war die Situation ja noch recht angenehm, aber wenn das Schloss noch zutraulicher würde, so dachte ich, dann könnte ich keine Räume mehr betreten, weil es jedes Café und jede Wohnung mit seiner Gegenwart sprengen würde. Wo ich auf Cafés zu denken kam, fiel mir Wien ein, wo ich auch gleich meine Schwester besuchen konnte. Also ging ich nach Wien.
Mit einer gewissen Enttäuschung bemerkte ich, dass ich meine Schwester nicht eben in Freude versetzte, als ich – Koffer in der Hand – vor ihrer geöffneten Türe stand. Sie begann fast sofort, mir etwas über Stress und Krankheit zu erzählen, über einen Streit mit F. und über eine Depression infolge von zu vielen Kunstfilmen. Welche Art von Kunstfilmen, wollte ich wissen, als ich mich behaglich-unbehaglich bei ihr umsah. Wenn ich zu meiner Schwester eile, vergesse ich manchmal, dass unsere Gemeinsamkeiten unserer Beziehung abträglich sein können. Wenn sie mich missgelaunt auf einen Kaffee einlädt und dabei eine gewisse Reizung in der Stimme bemerkbar wird, steige ich sofort auf den gleichen Zug und werde meinerseits heikel.
„Ich bin nur auf der Durchreise“, versuchte ich, sie zu beschwichtigen, andererseits wollte ich sehen, ob sie hierauf gekränkt reagieren würde und mich vielleicht doch bei sich wollte. Sie sagte sofort: „Nein, du musst hier bleiben, wir sehen uns ein wenig die Stadt an, ich muss dir so viel erzählen!“
„Fahren wir nach Sankt Petersburg“, antwortete ich inspiriert ob ihrer Zuneigungserkärung. „Dort werden wir uns alles sagen!“
Sarah war etwas überrumpelt, fand die Idee aber nicht schlecht, denn die Kunstfilme, die sie sich angesehen hatte, waren sämtlich von Tarkowski. Da ich von ihr ein glattes „Nein“ erwartet hatte, wurde ich durch ihren Zweifel motiviert. Ich sprach davon, dass man nie weiß, wann man stirbt, dass wir einander, wie sie ja selbst zugegeben hatte, viel zu sagen hatten und dass eine Luftveränderung ihr nur gut tun konnte, angesichts der prosaischen Widrigkeiten ihres Lebens. Ihre Augen glänzten auf vor Lust und erinnerten mich an das Aufglänzen des Schlosses. Ich war fast versucht, ihr die Geschichte zu erzählen, aber ein schlechtes Gewissen verhinderte dies. Gleichzeitig blickte ich aus dem Fenster und sah es – wie es mich anglotzte. Ich schluckte, wie man so sagt, aber ich schluckte, als hätte ich einen Stein verschluckt.
Wir fuhren nach Sankt Petersburg, Sarah hatte sich frei von allen Bedrängnissen gemacht und ich hatte günstige Tickets besorgt, auch das Visum bekamen wir leicht, ich zahlte alles, denn als Schlossbesitzerin hatte ich ja genug Geld, wie ich mir sagte. Am Flughafen glotzte mich mein Schloss durch eine verglaste Wand an und ich wusste langsam nicht mehr, wie lange ich das aushalten würde. Fast traute ich mich nicht mehr, meiner Schwester in die Augen zu sehen.
Als wir mit Pulkova Airways in Sankt Petersburg landeten, herrschte der Nebel. Er herrschte über die Stadt, als sei sie die Welt und als ob es hinter dieser Welt keine weitere Welt gäbe. Es war, wie die berühmten tausend Stäbe. Stundenlang warteten wir in der Schlange wegen der Passkontrolle und endlich ließ man uns ins Nichts frei. Mit dem Taxi fuhren wir zum Hotel, im Hotel begegnete man uns sehr kalt, wir waren müde und frustriert, außerdem hatte ich unterwegs mein Schloss gesehen – in den Wolken, als wir im Himmel waren – und es drückte mich, davon etwas zu sagen, aber ich hatte zu viel Angst. Der Nevskji Prospekt war viel gemeiner, als ich es mir vorgestellt hätte, sogar das Marinskji Theater bewegte uns nicht, der Schwanensee rührte mich zwar zu Tränen, aber ich weiß nicht warum, vielleicht war ich müde und depressiv und viel zu allein. Aus den Augen der Tänzerinnen starrte mich mein Schloss an und ich biss mir aus Versehen auf die Zunge.
Abends in einer Kneipe wussten wir beide aus einer leichten Vorahnung heraus, dass wir kurz vor einem Besäufnis standen, wir unternahmen jedoch nichts dagegen, weil Sarah an ihr Leben dachte und ich an mein Schloss. Wir betranken uns so gnadenlos, dass meine Zunge nicht mehr konnte, ich sah nur noch Schlösser überall. Wir stritten uns zuerst über Kleinigkeiten, dann fingen wir an zu konkurrieren, wer von uns die Unglücklichere sei, wer von uns noch weniger Zukunft vor sich habe und schließlich geriet ich so in Rage, dass ich rief: „Ich habe ein Schloss! Ich habe ein Schloss gesehen! Es verfolgt mich!“
Damit hatte ich ihr kurz den Wind aus den Segeln genommen, ganz benommen blickte sich mich an und fragte: „Echt.“
„Ja, ich habe es gesehen und es geht mir nach, es lässt mich nicht mehr in Frieden.“
Sie verdeckte ihre Augen mit den Händen und sagte: „Oh Gott, Elsie, wie schrecklich. Oh Gott.“
Jetzt haben wir eine plausible Erklärung für das rätselhafte Verschwinden des Nymphenburger Schlosses, das seit einiger Zeit die Münchner mehr beschäftigt als Pandemie, Ukraine oder Inflation. Die einfühlsame literarische Verarbeitung einer bedrohlichen Obsession hat, wie ich gerade erfahre, die im Prager Stadtteil Stodulky (genauer: in einem Hinterzimmer der ähnlich bedrohlich wirkenden Zentrale des tschechischen Geheimdienstes BIS) residierende „Gesellschaft der Freunde Franz Kafkas“ dazu bewogen, der hochgeschätzten Kollegin den diesjährigen (leider nicht dotierten) Franz-Kafka-Ehrenpreis zu verleihen. Dabei sind sich die Juror*innen wohlbewusst, dass die Ich-Erzählerin Elsie vor ihrem sie unerbittlich verfolgenden Schloss davonläuft, während in Kafkas gleichnamigem Roman-Fragment der Landvermesser K. sich dem so mysteriösen wie dominanten Gebäude zu nähern sucht. Beiden gemeinsam sei aber die tragische Vergeblichkeit ihres Tuns und das Scheitern jeglicher Kommunikation mit dem in abweisendem Schweigen verharrenden Schloss.
Doch was nun? Soeben meldet der Ticker: Schloss Nymphenburg ist wieder aufgetaucht und steht an seinem alten Platz im Park. Müssen wir uns um Elsie Sorgen machen? Hat es sie etwa aufgefressen? Oder ist sie endlich frei?
Dass sich der Preis der “Gesellschaft der Freunde Franz Kafkas” nicht monetär materialsiert, ist wahrlich ein Echtheitssiegel desselben. Ich bin zutiefst bewegt von den Herren und Damen Kollegen des Geheimdienstes BIS. Eigentlich hieß das Schloss ja zunächst das sogenannte Versailler Schloss, als es sich auf den Weg machte, durch Europa zu wandern und schließlich sogar in Russland aufzutauchen.
Die Noblesse, mit der Júlia da Silva Bruhns die fehlende monetäre Materialisierung des Ehrenpreises hinnimmt, ist bezeichnend für diese würdevolle, stolze Dame, eine wahre Mutter der Literatur. Ich kenne sie nicht anders. Obwohl in beengten finanziellen Verhältnissen lebend, lehnte sie es einst kategorisch ab, von ihren (allzu früh verstorbenen) Söhnen Heinrich und Thomas Mann unterstützt zu werden. Um so schlimmer, dass ihr undankbarer jüngster Sohn, der französische Skandalautor Michel Houellebecq, ihr bloß Scherereien macht – nur weil sie sich über das genaue Jahr seiner Geburt nicht einigen können. Wie kleinlich! Jedenfalls fördert Armut die Kreativität, was allein schon Júlias vielseitige auf Klarschicht gesammelte Schriften belegen. Lebensuntüchtige Hypersensible und Neurastheniker sind die Ausnahmen von der Regel. Wie etwa Marcel Proust, dessen treusorgende Haushälterin, die gute Céleste Albaret, es einmal so formulierte: „O Monsieur, was wäre bloß aus Ihnen geworden, wenn Sie keine reichen Eltern gehabt hätten?“
Solche an die Grundlagen der Existenz rührende Fragen kann ich zum Beispiel mir nur selber stellen, denn so eine hellsichtige Céleste war mir nicht vergönnt. Ach, die Welt ist ungerecht… . .
Die beflügelnde Wirkung der Armut, werter Herr Point, ist bisher noch an mir vorbeigeflogen. Was ich der Armut oder ihrem Anschein selbst nicht vorwerfe, da diese nur ein Mangel ist und einen höchstens dann schlussendlich an-west, wenn man schon ver-west. Ich bin noch nicht ganz so weit.
Meinen Söhnen, allen drei, hat es an Talent nicht gefehlt. Kritisch kann man sehen, was sie daraus gemacht haben. Aber ich klage sie nicht an…. Proust ist eine Jugendliebe… aber sind nicht alle Menschenkinder Jungendlieben?