Erzählung

Das Schloss

Als ich mich umdrehte, war das Schloss immer noch da. Das wunderte mich nicht besonders, denn das Schloss war mir schon seit Tagen gefolgt.

Als Münchnerin philosophiere ich am liebsten im Nymphenburger Park. Ich gerate in eine Trance der Nachdenklichkeit, während meine Schritte und meine Gedanken sich gemeinsam entwickeln – Gehen und Nachdenken, das ist so ähnlich, wie Schreiben und Nachdenken. Aber Gehen und Denken sind nie dasselbe, sie treten nur gern gemeinsam und gleichzeitig auf.
Das Regenwetterlicht machte mich melancholisch und verlieh der Atmosphäre etwas von Größe und stiller Gewalt. Ich erinnere mich noch, wie das Schloss zu leuchten begann, als ich gerade über das Denken nachdachte und seine Rolle in der Welt. Meine mailändischen Schuhe (in Wirklichkeit hatte Thailand sie hervorgebracht) begannen zu drücken und ich erkannte die Notwendigkeit zu verreisen. In der Tram sah ich diesen Umstand noch deutlicher und als ich an den Gärtnerplatz gelangte, hatte ich einen Plan. Paris. Pläne schmieden raubt meine ganze Aufmerksamkeit und so muss mir entgangen sein, dass mich das Schloss verfolgte – vielleicht aus Reiselust, ich weiß es wirklich nicht. Das Schloss verfolgte mich wie ein hungriges Tier, eines, das mich auffressen wollte oder eines, das mich als Nahrungsspender auserkoren hatte. Immer wenn ich mich umdrehte, stand es da und tat so, als hätte es immer dort gestanden.
In Paris habe ich versucht, mit dem Schloss Kontakt aufzunehmen, doch es schwieg beharrlich. Ich fragte es, ob es sich vielleicht den Spaß erlaubte, mich in den Wahnsinn zu treiben oder zu verblüffen, doch das Schloss stand still und fest, mit Regengewalt. Denn das Wetter verfolgte mich gleichfalls. „Sei´s drum“, dachte ich, „es wird schon aufgeben, früher oder später.“ Manchmal beunruhigte es mich. Manchmal versteckte sich das Schloss, um wieder aufzutauchen, dann musste ich fast lächeln und sagte zu mir: „Gut, dann habe ich eben ein Schloss. Zwar nicht auf die Art, wie ich es gerne hätte, aber immerhin, besser ein folgsames Schloss, in dem es sich nicht wohnen lässt, als keins.“
Ich hatte noch genug Geld, aber ich wollte nicht in Paris bleiben. Eigentlich hatte ich nur noch den Wunsch, das Schloss loszuwerden. Denn so war die Situation ja noch recht angenehm, aber wenn das Schloss noch zutraulicher würde, so dachte ich, dann könnte ich keine Räume mehr betreten, weil es jedes Café und jede Wohnung mit seiner Gegenwart sprengen würde. Wo ich auf Cafés zu denken kam, fiel mir Wien ein, wo ich auch gleich meine Schwester besuchen konnte. Also ging ich nach Wien.
Mit einer gewissen Enttäuschung bemerkte ich, dass ich meine Schwester nicht eben in Freude versetzte, als ich – Koffer in der Hand – vor ihrer geöffneten Türe stand. Sie begann fast sofort, mir etwas über Stress und Krankheit zu erzählen, über einen Streit mit F. und über eine Depression infolge von zu vielen Kunstfilmen. Welche Art von Kunstfilmen, wollte ich wissen, als ich mich behaglich-unbehaglich bei ihr umsah. Wenn ich zu meiner Schwester eile, vergesse ich manchmal, dass unsere Gemeinsamkeiten unserer Beziehung abträglich sein können. Wenn sie mich missgelaunt auf einen Kaffee einlädt und dabei eine gewisse Reizung in der Stimme bemerkbar wird, steige ich sofort auf den gleichen Zug und werde meinerseits heikel.
„Ich bin nur auf der Durchreise“, versuchte ich, sie zu beschwichtigen, andererseits wollte ich sehen, ob sie hierauf gekränkt reagieren würde und mich vielleicht doch bei sich wollte. Sie sagte sofort: „Nein, du musst hier bleiben, wir sehen uns ein wenig die Stadt an, ich muss dir so viel erzählen!“
„Fahren wir nach Sankt Petersburg“, antwortete ich inspiriert ob ihrer Zuneigungserkärung. „Dort werden wir uns alles sagen!“
Sarah war etwas überrumpelt, fand die Idee aber nicht schlecht, denn die Kunstfilme, die sie sich angesehen hatte, waren sämtlich von Tarkowski. Da ich von ihr ein glattes „Nein“ erwartet hatte, wurde ich durch ihren Zweifel motiviert. Ich sprach davon, dass man nie weiß, wann man stirbt, dass wir einander, wie sie ja selbst zugegeben hatte, viel zu sagen hatten und dass eine Luftveränderung ihr nur gut tun konnte, angesichts der prosaischen Widrigkeiten ihres Lebens. Ihre Augen glänzten auf vor Lust und erinnerten mich an das Aufglänzen des Schlosses. Ich war fast versucht, ihr die Geschichte zu erzählen, aber ein schlechtes Gewissen verhinderte dies. Gleichzeitig blickte ich aus dem Fenster und sah es – wie es mich anglotzte. Ich schluckte, wie man so sagt, aber ich schluckte, als hätte ich einen Stein verschluckt.
Wir fuhren nach Sankt Petersburg, Sarah hatte sich frei von allen Bedrängnissen gemacht und ich hatte günstige Tickets besorgt, auch das Visum bekamen wir leicht, ich zahlte alles, denn als Schlossbesitzerin hatte ich ja genug Geld, wie ich mir sagte. Am Flughafen glotzte mich mein Schloss durch eine verglaste Wand an und ich wusste langsam nicht mehr, wie lange ich das aushalten würde. Fast traute ich mich nicht mehr, meiner Schwester in die Augen zu sehen.
Als wir mit Pulkova Airways in Sankt Petersburg landeten, herrschte der Nebel. Er herrschte über die Stadt, als sei sie die Welt und als ob es hinter dieser Welt keine weitere Welt gäbe. Es war, wie die berühmten tausend Stäbe. Stundenlang warteten wir in der Schlange wegen der Passkontrolle und endlich ließ man uns ins Nichts frei. Mit dem Taxi fuhren wir zum Hotel, im Hotel begegnete man uns sehr kalt, wir waren müde und frustriert, außerdem hatte ich unterwegs mein Schloss gesehen – in den Wolken, als wir im Himmel waren – und es drückte mich, davon etwas zu sagen, aber ich hatte zu viel Angst. Der Nevskji Prospekt war viel gemeiner, als ich es mir vorgestellt hätte, sogar das Marinskji Theater bewegte uns nicht, der Schwanensee rührte mich zwar zu Tränen, aber ich weiß nicht warum, vielleicht war ich müde und depressiv und viel zu allein. Aus den Augen der Tänzerinnen starrte mich mein Schloss an und ich biss mir aus Versehen auf die Zunge.
Abends in einer Kneipe wussten wir beide aus einer leichten Vorahnung heraus, dass wir kurz vor einem Besäufnis standen, wir unternahmen jedoch nichts dagegen, weil Sarah an ihr Leben dachte und ich an mein Schloss. Wir betranken uns so gnadenlos, dass meine Zunge nicht mehr konnte, ich sah nur noch Schlösser überall. Wir stritten uns zuerst über Kleinigkeiten, dann fingen wir an zu konkurrieren, wer von uns die Unglücklichere sei, wer von uns noch weniger Zukunft vor sich habe und schließlich geriet ich so in Rage, dass ich rief: „Ich habe ein Schloss! Ich habe ein Schloss gesehen! Es verfolgt mich!“
Damit hatte ich ihr kurz den Wind aus den Segeln genommen, ganz benommen blickte sich mich an und fragte: „Echt.“
„Ja, ich habe es gesehen und es geht mir nach, es lässt mich nicht mehr in Frieden.“
Sie verdeckte ihre Augen mit den Händen und sagte: „Oh Gott, Elsie, wie schrecklich. Oh Gott.“

Und wie kamen Sie auf den Titel?

Es war um die blaue Stunde, die sich um diese Jahreszeit zwischen acht und neun einzustellen pflegt. An der Fußgängerampel stand ich und wartete wie ein Zombie auf grün, als eine Frau beschloss, sich das Warten zu schenken und die Straße auch ohne elektrische Erlaubnis zu überqueren.

„Sie, das ist den Kindern aber kein Vorbild“, rief ein Vater mit zwei Kindern im Grundschulalter hinterher. Er sprach in angepasstem Bayrisch und in seiner Stimme hörte man das absolute Recht, das er innehatte.

„Genau,“ rief der etwa neunjährige Sohn erstaunlich tief und gehässig. „Sonst müssen wir die Polizei rufen!“

Der Vater suchte meinen Blick, denn er wollte Komplizen. Aber ich wartete wie ein Zombie bis es grün wurde und ging. Ich ging sehr lange immer gerade aus und wenn ein Zaun meinen Weg versperrte, kletterte ich darüber. Der Tag war einfach dazu angetan, ewig und ohne Ausnahme gerade aus zu gehen. Ich hoffte gerade, dass sich mir keine Laterne entgegen stellen würde, die sehr schwierig zu überklettern sein musste, als ich gegen ein parkendes Auto lief. Es blieb mir ja nichts anderes übrig und so stieg ich über die Kühlerhaube.

„Sie da! Sie da! Ich ruf die Polizei,“ rief der Autobesitzer von der anderen Straßenseite, der mich nun verfolgte, so dass ich zu rennen begann. Es war eine Schockreaktion in meinem Kopf befand sich vermutlich kein einziger Gedanke, ich erinnere mich im Nachhinein nur, dass ich zuerst in eine Hecke sprang und dass sich dann ein Kanal unpassierbar vor mir ausbreitete. Der Mann hatte meine Fährte vielleicht verloren oder er rannte nunmehr lautlos wie ein Bär. Glücklicherweise fand ich ein Boot im Wasser und ich dachte, dass Bären wahrscheinlich nicht schwimmen können, ich rettete mich auf das Fahrzeug und ruderte tierisch davon. Die Luft war ganz rein, ein Gedanke begann sich zu materialisieren, doch da raste eine Frau in einem Motorboot daher und versuchte, mich zu rammen. Meine Logik ließ mich im Stich und ich wusste nicht, mit welchem Ruder ich paddeln sollte, um mich nach rechts zu drehen. So drehte ich mich aus Versehen nach links und stieß mit dem Motorboot zusammen. Sie griff nach einem meiner Ruder, schlug ihn mir quer über den Kopf und schrie: „Sehn Sie! Das passiert, wenn man sich nicht an die Verkehrsregeln hält!“

Ich wachte im Krankenhaus auf und wusste nicht, was unangenehmer war, das Gefühl, dass ich an allem Schuld war oder die Tatsache, dass ich keinerlei Versicherung hatte, weil ich mir so etwas nicht leisten konnte. Ich hatte Kopfschmerzen und wollte meine Augen lieber gar nicht öffnen, um Verhöre zu vermeiden. Doch das Leben fordert von sich aus, dass man die Augen öffnet, warum weiß ich nicht. Das Zimmer war – wie man sich das im Allgemeinen vorstellt – relativ weiß. Vor mir stand ein Mann und hielt eine zerbrochene Windschutzscheibe in beiden Händen.

„Sehen Sie nur, was sie angestellt haben!“

„Es tut mir leid. Es tut mir leid.“ Ich war sehr verlegen und schaute zu Boden.

„Das ist auch keine Entschuldigung. Das ist… was soll ich mit einer Entschuldigung, das ist ja eine Frechheit. Sie sollen sich nicht entschuldigen, Sie sollen sich richtig verhalten. Und wenn sie mir die Scheibe bezahlt haben, dann entschuldigen Sie sich gefälligst!“

Ich unterdrückte eine Entschuldigung dafür, dass ich mich entschuldigt hatte. Der Mann hingegen verließ den Raum so heftig türeknallend, dass die Tür in mehrere Stücke brach, so dass er in einen Streit mit einer Krankenschwester geriet. Das war ein ausgezeichneter Moment zu fliehen! Barfuß und im weißen Unterhemd lief ich aus dem Krankenhaus, das sich interessanterweise mitten in einem Urwald befand. Ich fürchtete mich sehr vor Schlangen. Sehr. Aber noch mehr hatte ich Angst vor Wespen. Aufgrund meiner Barfüssigkeit war ich recht verletzbar und schnitt mich an etwas Spitzem – einer zerbrochenen Bierflasche, wie ich zu spät erkannte – und nun blutete ich obendrein am Fuß. Ich fluchte auf die Kunstinteressierten, die hier offenbar eine Party gefeiert hatten und schleppte mich ängstlich davon, denn ich dachte an Geschichten, in denen es um bestimmte Tiere geht, die Blutspuren verfolgen. Aber ich konnte mich nicht erinnern, um welche Tiere es dabei immer ging. Blutegel? Blutschlangen? Blutwespen gar? Oh mein Gott. Ich war dem Tode geweiht, wie eine Motte im Weinglas. Aber ich dachte mir, sterben war nicht so schlimm, wie eine Windschutzscheibe zu zahlen, die mit Sicherheit Millionen kostete und ich hatte noch – Moment – genau drei Euro und vierzundzwanzig Cent. Das reichte nicht einmal für Zigaretten. Und ich rauchte doch so gern, besonders, wenn ich nervös war.

Da wachte ich auf. Es war ein normaler Tag und nichts regte sich im Zimmer. Aber die Möbel – ich sah die Möbel und den Kronleuchter an der Decke, der subtil schaukelte und ich begriff, dass die Welt noch viel schlimmer war, als ich es mir ausdenken oder erträumen konnte – nie im Moment selbst, weil der Moment so absorbierend war, dass man keine Zeit hatte, sich über den Schrecken zu erschrecken. Ich dachte an die Unmöglichkeit sich umzubringen, denn wer Angst vor Wespen hat, hat noch viel mehr Angst vor dem Tod. Oder vor dem Leben davor. Oder vor einer Nase, die riecht oder einer Hand, die sich helfend stellt. Das zynische Schicksal brachte mich dazu, einen Kaffee zu kochen, langsamer zu atmen und vom Fenster her, meine Nachbarn zu beobachten, wie sie das Gartenhäuschen reparierten. Da ging mein Atem doch wieder schneller. Hatten die denn nix Besseres zu tun? Hatten die denn nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wussten die denn nicht, dass die Uhr längst tickte? Verbissene Idioten! Ich schaltete meinen Rechner an und begann einen Roman zu schreiben mit dem Titel: Die verbissenen Idioten.

Der Hochzeitstag

Kerzen im Badezimmer sorgen für eine unverwechselbar romantische Stimmung. Licht aus: Sie ließ das Badewasser einlaufen und fügte einige Düfte hinzu, erotisch-narkotisch: Lavendel, rosa Grapefruit, Bois de Rose und einige handvoll Rosenblätter. Wenn er kommt, liege ich im Bad, wenn er mich zwischen so schönen Dingen sieht, wird er mich wieder begehren, wie am ersten Tag. Die Wohnung war ordentlich bis in jede Einzelheit, saubere Kleidung für später lag auf ihrem Bett, die Kleidung von vorher gleich in die Wäsche, dann war das auch weg. Mit der Hand fuhr sie in das Wasser, es schien richtig zu sein, mit dem Fuß überprüfte sie diese Annahme, denn ihr Fuß neigte dazu, alles heißer zu finden als die Hand. Warum eigentlich? Hmm. Ach, ist das schön im Wasser zu liegen, man gönnt sich so was viel zu selten. So: Büffet steht im Esszimmer, Rotwein atmet. Ach du liebe Güte! Der Kuchen! Sie sprang aus ihrer Badewanne, lief tropfend in die Küche und wollte den Ofen ausmachen – aber er war schon aus. Manchmal war sie etwas zerstreut.

Noch mal. Hmm. Wasser ist so… existenziell, man kommt zu seinen Wurzeln. Nicht wie in der Arbeit, wo man doch wirklich ein Instrument ist. Laut sagte sie: „Ich sag´ s wie´ s is: ein Instrument damit ein anderer Geld scheffelt. So schaut´ s nämlich aus.“ Jahrelang hatte sie in der Buchhandlung gearbeitet, es hatte ihr nichts ausgemacht – in der Jugend hatte sie alle Energie in den Laden gesteckt – doch langsam wurde die Monotonie sogar für sie offensichtlich. Vielleicht hätte sie doch versuchen sollen, Karriere zu machen und Chefin zu werden, statt für den Rest des Lebens bei der Bestellung im Wareneingang zu sitzen. Aber immer noch besser als Kunden zu bedienen, keine Frage, das war eigentlich die reinste Erniedrigung.

Roland musste bald kommen, er würde sie so sehen und sie sofort begehren, wie am… Langsam kamen ihr Zweifel an der Wirksamkeit der Überraschung. Sie war schließlich keine junge Geliebte, sondern eine Ehefrau. Das war eigentlich ein sehr großer Unterschied. So sicher war sie sich gar nicht, dass er für Kerzen, Blumen und solchen Schnickschnack überhaupt etwas übrig hatte. Genau genommen hatte er dafür überhaupt kein Auge. Wie musste das alles auf ihn wirken? War es doch besser, angezogen auf ihn zu warten? Würdevoller, mit einem Abendkleid und hochhackigen Schuhen vielleicht. Ah, oder im Bademantel und mit einer Zigarette? Ach, einem Ehemann musste man vertrauen können, er sollte wenigstens so tun als ob. Es war doch nur ein Spiel und er sollte gefälligst mitspielen. Das war am Hochzeitstag doch wohl nicht zu viel verlangt.

Aus einem plötzlichen Instinkt heraus drehte sie sich zum Badezimmerfenster um und sah dort zwei Kinderköpfe, die hereinblickten und hämisch kicherten. Wie waren die Lümmel überhaupt heraufgeklettert? Ihre Wohnung lag im fünften Stock.

„Geht sofort wieder runter“, rief sie erbost. Als sei das ein Zauberspruch gewesen, verloren die zwei Kinder den Halt und fielen. Sie trat zum Fenster und sah, wie sie auf ein Auto gefallen waren, dessen Windschutzscheibe sie mit ihrem Gewicht zertrümmert hatten und mit anderen Lümmeln wegrannten.

Hoffentlich waren sie nicht allzu verletzt, das hatte sie nun auch nicht gewollt, ob man sie zur Verantwortung ziehen würde? Leichtsinnig diese Jugend, immer nur auf Zerstörung aus, dachte sie, als sie sich den Bademantel überzog, das Wasser war ohnehin dabei, kalt zu werden. Und es war doch besser, den Hochzeitstag nicht so überzogen zu begehen. Eine Jeans, ein Hemd und ein Lächeln waren viel angebrachter. Schließlich war die Ehe zur Entspannung da, das Leben hatte genug Ansprüche. Stimulation zu brauchen, war so kindisch. Sie hatte doch immer mit beiden Beinen auf dem Boden gestanden. Sie hatte gearbeitet, sich selbst verwirklicht. Als Heimchen konnte man sie nun wirklich nicht bezeichnen, dachte sie, als sie sich Whiskey einschenkte und sich eine Zigarette anzündete. Puh, die schmeckte stark. Aber zweiundvierzig war ein gutes Alter, um wieder mit dem Rauchen anzufangen. Ein Beweis dafür, wie tief sie das Leben verstanden hatte. Es bestand nämlich nur aus Problemen und man musste ein gleichmütiges Gesicht bewahren mit einer Mentholzigarette im Mundwinkel. Sie dachte: ich warte doch gar nicht, ich sitze nur hier und trinke Whiskey. Roland wird Augen machen, wenn er mich rauchen sieht.

Wer brauchte schon Sex im Untergrund der Buchhandlung? Sie jedenfalls nicht. Ein guter Titel für einen Bestseller: Harry Potter and sex in the underground bookstore. Die Kinder waren doch heutzutage keine Kinder mehr. Sex, Gewalt, Terrorismus, so schaute es nämlich aus.

Nach einer halben Stunde schenkte sie sich noch ein Glas Whiskey ein und wurde doch traurig. Ehe war doch nur eine Illusion, sie würde sich scheiden lassen und einen jüngeren Mann finden. Sie begann einen Abschiedsbrief zu verfassen:

Roland-

Da sitze ich nun und ertränke meine Lust im Whiskey.

Doch das war nicht bedeutungsvoll genug. Ein Abschied, das musste sein wie in der Oper. Die Arie der Königin der Nacht. Sie ging zum Regal, wo die ganze Weltliteratur stand, ungelesen. Diese Bücher mussten doch voll von Abschiedsbriefen sein. Sie griff eines heraus, fand aber keinen Brief, dann ein weiteres. Proust.

Mon ami-

Guter Anfang! Hervorragend. Jetzt kam der Rest wie von selbst:

Ich habe schon immer Angst vor dir gehabt. Deswegen hinterlasse ich dir diese Zeilen, die ich nicht mündlich hätte sagen können. Meine Hand zittert bei dem Gedanken an die Wut, die dich ergreifen wird, wenn du diesen Brief liest. Zwischen uns ist es doch aus, die Ehe ist nunmehr zur Fessel geworden.

Fessel! Hervorragend!

Wir leben an einander vorbei, wie zwei Schwimmer, die an einander vorbeischwimmen.

Schöner Vergleich! Jetzt noch etwas über die tiefe See. Sie trank noch einen Schluck Whiskey, das inspirierte sie.

Du warst auf einem Boot und ich war die tiefe See, die du nie verstanden hast.

Nein. Lieber so:

Deine Segel waren im Wind, an der Oberfläche der tiefen See…

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür ging auf. Roland schleppte mit seinem Freund Heinz ein großes Paket herein. Sie stellten das Paket im Schlafzimmer ab, Heinz grüßte und verschwand mit bedeutungsvollen Blicken. Roland trat auf sie zu – er war in bester Laune – küsste sie auf die Stirn und sagte:

„Tut mir leid, dass ich so spät komme! Aber das Geschenk war nicht so leicht zu transportieren. Du rauchst?“

„Ist das Geschenk für mich?“

Er umarmte sie zärtlich und gratulierte ihr zum Hochzeitstag. Er sagte, dass er keinen Tag mit ihr bereut habe, sie solle aber nicht auf den Gedanken kommen, wieder mit dem Rauchen anzufangen.

Mit vereinten Kräften packten sie das Geschenk aus. Es war ein Roboter ohne Gesicht mit erigiertem Penis. Er erinnerte sie an Science-Fiction-Filme oder an Terminator II.

Roland erklärte: „Ich weiß, dass du dir viel häufiger Sex wünschst, als ich ihn dir geben kann. Es ist nun eben so, wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet. Ich liebe dich sehr, aber ich liebe dich inzwischen wie eine Schwester. Natürlich gönne ich dir Sex, deswegen habe ich beschlossen, dir dieses Geschenk zu machen.“

Roland studierte begeistert die Gebrauchsanleitung und sie selbst befühlte die Oberfläche des Gegenstands – sie war nicht so weich wie Haut, glänzte metallisch, aber es war passabel.

„Man kann ihn auf sieben Stufen einstellen: von sehr sanft bis brutal.“

„Probieren wir medium“, sagte sie unentschlossen. „Mal sehen, was er darunter versteht, nachher kann man ihn ja noch feinstellen.“

„Willst du ihm keinen Namen geben?“

„Pet“, sagte sie kurz.

„Willst du mit Sound oder ohne?“

“Mit. Kann man die Sprache aussuchen?“

„Kann man“, sagte Roland stolz, „was hättest du denn gern?“

„Latein!“

„Leider kann ich nur mit lebenden Sprachen dienen.“

„Französisch!“

Pet machte zuerst eine Hüftbewegung, so ähnlich wie Elvis Presley. Ein verwegener Anfang! Eine Vorwegnahme des Aktes. Er sagte:   „Je ne viens pas ce soir, vaincre ton corps, ô bête!“

„Oh! Er ist ein Poet“, rief sie, „stell ihn bitte eine Stufe weicher, Roland, nein, härter!“

Sie zog sich aus und legte sich auf das Bett. Sie blickte zum Schlafzimmerfenster und da waren schon wieder zwei Lümmel, die hereinblickten.

„Haut sofort ab, oder ich ruf die Polizei!“

Die Lümmel kicherten, dann verloren sie den Halt und fielen hinunter.

„Viens“, sagte sie zu Pet.

„… ni creuser dans tes cheveaux impurs une triste tempête…”

Pet war auf das Bett gekrochen und fuhr ihr bei diesen Zeilen durch die Haare. Er war ganz warm geworden und sie auch. Sie fühlte seine Hitze und seine seltsame Haut, die so glatt war wie Plastik. Sie wollte, dass er sofort eindringe, doch Pet wusste, wie man die Erregung steigerte. Er fuhr ihr über die Brüste, saugte an ihnen und rezitierte mit ersterbender Stimme: „Ayant peur de mourir lorsque je couche seul!“

Roland saß neben ihnen auf dem Bett, manchmal verjagte er Kindsköpfe vom Fenster.

Pet drang in sie ein und es erschien ihr wie die Erfüllung ihres Lebens. Er wurde heißer und heißer, fast so heiß, dass es schmerzte, ihn zu berühren. Seine Beckenbewegungen waren so vollkommen und rhythmisch wie die Brandenburgischen Konzerte. Er sagte: „Il pleure dans mon coeur comme il pleut sur la ville!” Doch er konnte vor Erregung und Hitze nicht weitersprechen. „Aua!“ Schrie sie in Ekstase. „Tu es franchement chaud!”

Roland rannte herbei und warf Pet hinunter. Sie dachte zuerst, es geschehe aus Eifersucht, doch dann sah sie, dass Pet brannte.

Roland kippte eimerweise Wasser über Pet und sagte: „Es tut mir leid. Es muss ein Wackelkontakt gewesen sein. Ich tausche ihn morgen um, er hat fünf Jahre Garantie.“